Dr. Klaus Dede
1. Juni 1935 - 5. Mai 2018

Von Temperenz und Abstinenz

Vom Tabak zum Alkohol

Die deutsche Bundesregierung streitet sich mit der Europäischen Kommission in Brüssel - und warum? Es geht darum, dass die anderen Staaten der Union aus der Tatsache, dass Tabak nicht nur der Gesundheit schadet, sondern sogar töten kann, die Forderung ableiten, jegliche Werbung für das Gift zu verbieten, was sich eigentlich von selbst versteht - aber die deutschen Politiker sträuben sich dagegen - warum?

Die Regierung hat natürlich ihre Gründe - vor allem: Tabak ist, im Gegensatz zu Haschisch, Heroin und Kokain, eine zugelassene Ware - wie kann man dann die Werbung für das Produkt untersagen? Wenn man einen solchen Widerspruch zulassen würde, könnte man mit denselben Gründen auch die Reklame für den Alkohol unterbinden, denn auch er schadet nicht nur den Menschen, sondern tötet sie unter Umständen.

Alkohol, oder, wie man richtiger sagen sollte, Äthanol hat viele gute Eigenschaften: Mit ihm kann man Motoren antreiben, er löst Fette und konserviert verderbliche Stoffe, beispielsweise Tierkörper, - im menschlichen Körper dagegen richtet er bei jedem in jeder Menge Schaden an, aber er ist seit, sagen wir, 5000 Jahren in die Gesellschaft integriert und aus diesem Grunde nicht aus ihr zu verbannen - man kann den Konsum allenfalls einschränken - und darum geht es.!

Denn Äthanol ist einerseits eine weitverbreitete Volksdroge, die man zwar nicht verbieten kann, deren Konsum man aber einschränken sollte, weswegen der Alkoholismus in Deutschland seit dem Bestehen des Reichstages, also von 1867 an, bis fast zu seinem Ende, also bis in das Jahr 1932, Thema des Parlaments war. Mal bot das Strafgesetzbuch den Anlass zu alkohol-politischen Debatten, mal das Bürgerliche Gesetzbuch, schließlich das Gasstättengesetz, das immer mal wieder reformiert werden musste - vor allem aber gab es im Parlament Abgeordnete, die sich für eine Beschränkung des Alkoholkonsums einsetzten, bis sich dann das Parlament selbst abschaffte.

Nach der Befreiung wurde diese Tradition nicht fortgesetzt.

Zwar beklagte man immer wieder lebhaft die vermutlich zweieinhalb Millionen Alkoholkranken in der Republik, aber in den fast 60 Jahren, die der Bundestag inzwischen besteht, hat es zu diesem Thema noch nicht eine einzige Debatte gegeben, keine „Große Anfrage", keine Regierungserklärung - nichts, nur gelegentliche mündliche Anfragen irgendwelcher isolierter Abgeordneter, die lustlos von der Regierungsbank aus beantwortet wurden, mehr nicht.

Und nun stelle man sich vor, das Parlament würde die Tabakindustrie mit einem Werbeverbot belegen!

Könnte da nicht ein Abgeordneter des Hohen Hauses auf die Idee kommen, sich in der Öffentlichkeit zu profilieren, indem er dasselbe für den Alkohol fordert?

Mit welchen Argumenten könnte ihm die Regierung dann entgegentreten?

Nun, bevor sich der Volkswille im Parlament bemerkbar macht, muss er sich außerhalb des Bundestages regen - und das wird er. Und er kann das um so nachdrücklicher, je besser die Sprecher informiert sind, was darauf hinaus läuft, dass sie zunächst studieren sollten, was bereits gesagt und ausprobiert worden ist und was nicht, was sich früher schon als unzureichend erwiesen hat und was nicht - all das hat seinen Niederschlag in der Literatur gefunden. Wenn die Diskussion, die ich erwarte, also losbricht. wird es darauf ankommen, dass die Teilnehmer sich den Sachverstand wieder aneignen, der im Jahre 1932 einmal vorhanden war - und dazu dient, so hoffe ich, diese Bibliographie. Es geht mir also nicht darum, eine verstaubte Akte wieder zu öffnen, damit ein gelangweilter Doktorand sein Material daraus zieht, sondern auf dem Wege der gesellschaftlichen Diskussion eine Therapie zu entwickeln, die dazu beiträgt, eine individuelle und soziale Krankheit zu bekämpfen, die nicht nur für Einzelne, sondern für die Gesellschaft insgesamt eine Gefahr geworden ist, die auch ihren handfesten Ausdruck in den Defiziten der Sozialsysteme finden. Das also ist das eigentliche Thema der nachfolgenden Liste.

Von Temperenz und Abstinenz

Einleitung

Im Jahre 1903 legte Emil Abderhalden seine „Bibliographie der gesamten wissenschaftlichen Literatur über den Alkohol und den Alkoholismus" vor. Ein ehrgeiziges Unternehmen, zu dem fast 60 Wissenschaftler ihre Beiträge leisteten und das überdies durch die Königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin unterstützt wurde. Immerhin konnte Abderhalden damals seinen Anspruch einlösen und zwar nicht nur, weil er sich auf die „wissenschaftliche Literatur" beschränkte, sondern auch, weil im 19. Jahrhundert die Literatur zu diesem Thema immer noch überschaubar war.

Wenn ich mich heute noch einmal an ein ähnliches Werk gemacht habe, so muß ich zu allererst um Nachsicht bitten, denn ich kann leider nicht versprechen, daß ich die gesamte Literatur der Abstinenz- und Temperenzbewegung in der Epoche des deutschen Nationalismus lückenlos erfaßt habe. Das hat zunächst den Grund, daß ich allein eine Aufgabe zu schultern versuchte, für die Abderhalden zahlreiche Mitarbeiter gefunden hatte. Und da die Buchproduktion seit der Jahrhundertwende ungemein gestiegen ist, muß ich leider davon ausgehen, daß ich manchen Titel schlicht nicht gefunden habe. Im Falle meiner kleinen Bibliographie über die Literatur der Tabakgegner, die ich angehängt habe, werden die Lücken besonders groß sein, weil ich hier nur das aufgelistet habe, was sich so nebenbei ergab, wie ich diese Titel überhaupt nur deshalb aufführe, weil die Autoren, die sich gegen den Äthanolkonsum wenden, in manchen Fällen ebenso heftig dem Rauchen widerrieten, jedenfalls trifft dies für die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts zu. Gezielt gesucht habe ich nicht. Es ist mir auch nicht gelungen, die alkoholgegnerische Presse vollständig zu erfassen. So fand ich beispielsweise folgende Titel: Nordslesvigs Good-Templar (Organ von Deutschlands Großloge I des IOGT), Fortschritt, Sächsischer Guttempler, Lintorfer Korrespondenzblatt, Nordfriesischer Gut-Templer, Germania und Der Nephalist, die alle im Jahre 1905 erschienen sind, von denen ich aber weitere Nachrichten nicht ermitteln konnte, weswegen ich sie nicht in meine Liste aufgenommen habe. Bei der Fülle von Kalendern, Jahrbüchern und verwandten Periodika habe ich mich ebenfalls auf die Beispiele beschränkt, auf die ich stieß, weil es ein aussichtsloses Unterfangen ist, hier alle Publikationen zu erschließen, zumal manche nur als Sternschnuppen auftauchten und alsbald verglühten. Vielleicht hilft mir jemand auf die Sprünge. Überhaupt bitte ich: Falls ein Benutzer auf eine Lücke stößt, bitte ich um Nachsicht und Nachricht. Und im übrigen hege ich die Hoffnung, daß derjenige, der sich der Geschichte der Abstinenz- und Temperenzbewegung zuwendet, auf diesen Seiten die Hinweise findet, die es ihm ermöglichen, sich Informationen zu erschließen, die er zur eigenen Urteilsbildung benötigt. Um die Suche zu erleichtern, habe ich die Titel, wenn irgend möglich, einem Namen zugeordnet. Dort, wo sich keiner fand, habe ich Organisationen wie Autoren behandelt. Was dann noch blieb, habe ich dem Stichwort „anonym" zugeordnet. Ergänzt wurde die Bibliographie durch eine Liste der im 19. Jahrhundert gängigen Kommersbücher, weil die Studentenlieder eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Alkoholismus zum Inhalt haben. Sie habe ich chronologisch geordnet, weil sich in aller Regel keine Autoren oder Herausgeber finden und die Titel alle gleich sind. Abgeschlossen wird die Sammlung durch eine Liste der alkoholgegnerischen Vereine, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig waren. Ich habe alle aufgenommen, die ich fand, egal ob sie örtlich begrenzt wirkten oder überregional, ob sie die Mäßigkeit oder die Abstinenz vertraten, ob sie eine lange Dauer hatten oder als Eintagsfliegen durch die Zeit huschten. Mir ging es darum, die ganze Vielfalt dieser Bewegung, der 1913 etwa 400.000 Menschen unmittelbar angehörten, deutlich zu machen - und Hinweise auf weitere Forschungsarbeiten zu geben.

Die vorliegende Bibliographie unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht zunächst einmal formal von seinem Vorbild. Aber es gibt auch inhaltliche Gründe, weswegen sich das Werk Abderhaldens nicht fortführen läßt.

Die moderne Diskussion über den Alkohol setzt im ausgehenden Mittelalter mit der Frage ein, ob denn der Branntwein tatsächlich ein „Wasser des Lebens" sei, wie man zunächst glaubte, oder nicht vielmehr ein „Wasser des Todes". Zwar meinte man, dem Branntwein allerlei segensreiche Wirkungen zuschreiben zu können, aber man stellte auch viele „Nebenwirkungen" fest, wie wir sagen würden, und fand deren immer mehr und immer mehr, bis die therapeutische Wirkung des Branntweins ganz zweifelhaft wurde. Zugleich beobachtete man, daß Wein und Bier dieselben Wirkungen hervorriefen wie der Schnaps. Und man entdeckte auch schließlich die Ursache, nämlich das Äthanol, das ja in allen drei Getränken enthalten ist. Diese Diskussion war etwa um 1840 abgeschlossen.

Aber damit war die Frage nicht beantwortet, ob denn nicht doch der in Schnaps, Bier und Wein gleichermaßen enthaltene Alkohol ungeachtet aller negativen Begleiterscheinungen eine gewisse therapeutische Wirkung auf den Menschen habe. Man versuchte zunächst allerlei Begleitstoffe für die unerwünschten Nebenwirkungen des Äthanolkonsums verantwortlich zu machen, während man zugleich die Wirkung des Äthanols bei allen möglichen Krankheitszuständen daraufhin überprüfte, ob er heilsam wirke oder nicht.Nach einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen stellte sich heraus: er tat es nicht. Kraepelin schließlich untersuchte sehr gründlich, und zwar im Experiment, die Frage, wie Schnaps, Bier und Wein die menschlichen Nerven beeinflusse, wobei er besonders prüfte, ob Äthanol leistungssteigernd oder, im Gegenteil, leistungsmindernd wirke, was dann auf die Frage hinauslief, ob es eine Toleranzgrenze gäbe, bis zu der der Konsum der berauschenden Getränke unbedenklich, ja, vielleicht sogar erwünscht sein könnte, aber es half nichts: Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts stand fest, daß Äthanol ein Gift ist, das jedem Menschen in jeder Menge schadet - und an dieser Erkenntnis hat sich bis heute nichts geändert. Neu ist an der gegenwärtigen Diskussion allenfalls, daß man nicht mehr einzelne Phänomene auflistet, sondern die gemeinsame Ursache herausgefunden zu haben scheint. Man kann also erklären, wie die vielfältigen Schäden, die man beobachtet hat, in der einzelnen Zelle zustande kommen. Damit hat sich unser Wissen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zwar vertieft, nicht aber verändert.

Abderhaldens Bibliographie erschien zu einem Zeitpunkt, als die medizinische Diskussion über den Alkohol, der seit einem halben Jahrhundert die Gemüter der Ärzte und Chemiker erhitzt hatte, abgeschlossen war. Sie kann sozusagen als Bilanz eines langen und gründlichen Diskurses aufgefaßt werden. Aber sie war kein Schlußstrich. Zwar schien die Folgerung auf der Hand zu liegen: Wenn das Äthanol ein Gift ist, dann gehört es nicht in die menschliche Nahrung! Aber da der Mensch doch etwas mehr ist als eine komplizierte Kohlenwasserstoff-Verbindung, war damit das Problem nicht erschöpft, denn der Alkohol ist ja nun seit langem, wie ich meine: seit Adam und Eva, in die menschliche Kultur integriert und ließ sich deshalb nicht einfach durch einen Gesetzesbefehl daraus eliminieren. Die Frage lautete also: Zwar wissen wir jetzt, daß Äthanol ein Gift ist - aber wie gehen wir damit um?

Damit war eine ideologische Diskussion eröffnet, die bis heute nicht abgeschlossen ist und, wie ich befürchte, erst dann ein Ende haben wird, wenn die Menschheit sich umgebracht hat. Für mich bedeutete diese Überlegung, daß es nicht darum gehen konnte, den naturwissenschaftlichen Diskurs weiterzuverfolgen, sondern daß ich nunmehr mein Augenmerk auf jene richten mußte, die sich dem Problem aus moralischer, theologischer, sozialer oder allgemein philosophischer Sicht zuwandten. Ich konnte mich deshalb nicht damit begnügen, die naturwissenschaftlichen Werke zum Alkoholismus aufzufinden, sondern mußte auch Romane und Gedichte aufnehmen, kurzum alles, was den Alkoholismus zum Gegenstand hatte. Und damit steuerte ich mit voller Fahrt in das offene Meer hinaus, das bekanntlich keine Grenzen kennt - denn wo sollte ich anfangen und vor allem aufhören?

Ich begann zu sortierten: Zunächst einmal beschränkte ich meinen Sammeleifer auf selbständige Veröffentlichungen, mochten sie nun zwei Seiten umfassen oder viele hundert. Damit schieden alle Zeitschriftenaufsätze aus - es sei denn, daß sie als Sonderdrucke nachzuweisen waren. Um die jeweilige Auflage habe ich mich nicht gekümmert - mochte die Publikation noch so unbedeutend und abgelegen sein: ich habe sie aufgeführt. Das hat zur Folge, daß der Benutzer manchen Titel nicht mehr bekommen wird, weil er verschollen oder auch anhand der üblichen Bibliographien nicht mehr nachzuweisen ist, aber ich denke, mitunter ist es schon interessant zu wissen, was es gegeben hat - und vielleicht führt in dem einen oder anderen Fall die gezielte Suche irgendwo zum Erfolg. Schließlich habe ich mich an die Weisheit gehalten, daß auch Bücher ihre Schicksale haben. Deshalb habe ich mich bemüht, zu jedem Titel die Editionsgeschichte zu ermitteln, also anzugeben, welche Auflagen gedruckt wurden. Der Benutzer kann so leicht sehen, welche Bedeutung die Arbeit in ihrer Zeit hatte. Verlage habe ich, falls ich sie wußte, immer dann genannt, wenn sie die Zuordnung des Titels zu einer der vielen Richtungen der Abstinenz- und Temperenzbewegung ermöglichten. Darüber hinaus habe ich gelegentlich zusätzliche Informationen eingestreut. Sie sind jeweils kursiv gesetzt.

Inhaltlich habe ich mich möglichst eng an das Thema gehalten. Um die Alkoholproduktion selbst habe ich mich beispielsweise nicht gekümmert. Die Frage, ob Schnaps, Wein oder Bier besser mit dieser oder mit jener Technik gewonnen werden, welche Rohstoffe eingesetzt werden müssen und wie man sie am besten ausbeutet, interessierte mich nicht, denn für mich war allein das Produkt wichtig - und dessen Wirkung auf den Menschen. Auch Steuerfragen waen mir nur insoweit wichtig, als irgendwie der soziale Gesichtspunkt dabei eine Rolle spielte. Die Branntweinsteuer als Mittel zur Haushaltsdeckung gehörte nicht in mein Thema, aber die Branntweinsteuer als Mittel zur Begrenzung des Konsums sehr wohl. Daß hier die Grenzen fließend sind, liegt auf der Hand.

Schließlich traf ich eine zeitliche Begrenzung: Ich nahm jene Titel auf, die in der Epoche des deutschen Nationalismus erschienen waren. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß sowohl der Alkoholkonsum als auch dessen Ablehnung in dieser Zeit eng verzahnt ist mit der Ideologie, die etwa von 1800 bis 1950 das Denken und Handeln der Menschen in Deutschland prägte. Ich kann diese These auf diesen wenigen Zeilen nicht näher begründen und bitte deshalb die Begrenzung einfach als eine Festlegung hinzunehmen, wobei ich mich natürlich nicht sklavisch an die Jahreszahlen gehalten habe: Wenn ein Autor, sagen wir, in den dreißiger Jahren angefangen hat, seine Ansichten zum Thema „Alkoholismus" zu veröffentlichen, habe ich sein Werk natürlich über das Jahr 1950 hinaus weiter verfolgt und das gleiche gilt für das Ende des 18. Jahrhunderts. Aber wichtig ist: Ich habe die feudalen Mäßigkeitsorden des 15. bis 18. Jahrhunderts ebenso außen vor gelassen wie die Literatur der Anonymen Alkoholiker, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die Diskussion beherrscht, denn beide Komplexe gehören nicht zu meinem Thema.

Und damit nicht genug: Wer immer im 19. Jahrhundert über die Unsittlichkeit der Großstädte lamentierte, das Los der Prostituierten beklagte und sich über die Lage der Arbeiterklasse Gedanken machte, stieß alsbald auf den Alkoholismus als ein prägendes Phänomen. Ich habe auch diese Werke in aller Regel nicht aufgenommen. Und schließlich kümmerte ich mich nicht um die Diskussion in der Jugendbewegung über den Wert oder Unwert des Alkohols. Zu meiner Rechtfertigung kann ich sagen, daß in diesen Fällen zwar auch vom Alkoholismus die Rede ist - aber eben: auch. Mich aber interessiert der Diskurs der Abstinenzler und Temperenzler und zwar sowohl die interne Debatte als auch die mit den Außenstehenden und deshalb mußte ich das aufnehmen, was in diesem Zusammenhang von Belang war - und nur das.

Ich räume ein, daß so ein subjektives Moment in meine Betrachtung gekommen ist, aber das mußte ich in Kauf nehmen. Praktisch bedeutete diese Richtlinie, daß ich alles berücksichtigte, was ich irgendwo in der einschlägigen Presse verzeichnet fand - natürlich nur insoweit, als ein Bezug zum Alkoholismus erkennbar war. Der Umstand, daß in einer Guttempler-Gruppe über den Don Carlos von Schiller gesprochen wurde, rechtfertigte die Aufnahme dieses Titels nicht, aber die Politik des Dritten Reiches ist schlechterdings unverständlich ohne die Broschüre von Binding und Hoche über die Vernichtung des lebensunwerten Lebens, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg erschien - deshalb gehört dieses Büchlein in diese Liste, obwohl darin von Alkohol und Alkoholismus nicht die Rede ist. Leider gab es aber auch so Grenzen: Beispielsweise ist der Gründer der Inneren Mission, Johann Hinrich Wichern, in Deutschland für die Alkoholpolitik der Evangelischen Kirche ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als der Pastor Rochat - aber er hat nicht ein kleines Werklein zu diesem Thema geschrieben und so kommt er nicht vor. Bodelschwingh hat sich immerhin zu den Landstreichern geäußert, was ich zum Vorwand nahm, ihn in die Bibliographie aufzunehmen. Im Falle der katholischen Kirche wäre Adolf Kolping zu nennen, der ebenso fehlt, wiewohl die vom ihm gegründeten Gesellenvereine durchaus zur Mäßigkeitsbewegung gerechnet werden können. Aus andern Gründen wäre Lagarde wichtig gewesen - aber auch für ihn gilt, daß der Alkohol nicht sein Thema war und das Vagabundentum ebensowenig, also fehlt er auch. Ein ähnlicher Fall ist Nietzsche. Er hat zwar einen Aphorismus gegen den Alkoholkonsum hinterlassen, aber das rechtfertigte nicht seine Aufnahme in diese Liste.

Einige Zeit habe ich mich gefragt, ob ich mich auf die deutschsprachige Literatur beschränken sollte - aber auch das Vorhaben erwies sich als undurchführbar. Bei meinem Recherchen stellte ich zu meinem großen Erstaunen fest, daß die Abschließung des deutschen Bürgertums gegen äußere Einflüsse erst mit dem Weltkrieg einsetzt. In der Zwischenkriegszeit wurde sie nur sehr oberflächlich aufgehoben und gestaltete sich dann sehr strikt in der Nazizeit und unmittelbar danach, ja, ich möchte vermuten, daß die Offenheit gegenüber anderen Sprachen, die im 19. Jahrhundert selbstverständlich war, bis heute nicht wieder erreicht ist.

Der Grund liegt offen klar zu Tage: Die „Männer von Besitz und Bildung", um mit Martius zu reden, lernten seinerzeit im Gymnasium mindestens drei Sprachen - nämlich Latein, Griechisch und Französisch - und zwar gründlich, denn wir haben es mit einer Lesekultur zu tun. Sehr oft kamen noch Anfangskenntnisse im Hebräischen und Englischen hinzu. Das alles war aber aufgezwungen und so eigneten sich die Pastoren, Lehrer, Ärzte in aller Regel später noch ein oder zwei weitere Sprachen an, nur so aus Jux und Dollerei. Meistens wandte man sich dem Italienischen oder auch Spanischen zu. Im Osten erfreuten sich verständlicherweise das Polnische oder Russische einer gewissen Beliebtheit. Und vor dem Ersten Weltkrieg studierte der eine oder andere aus ideologischen Gründen eine der nordischen Sprachen, jedenfalls kann man ausgehen kann, daß jeder Deutsche, sofern er als gebildet gelten wollte, vier oder fünf Sprachen fließend lesen konnte, allerdings keine davon sprach. Und die Folge davon war, daß man sich in den Zeitschriften vor dem Ersten Weltkrieg kaum die Mühe machte, fremdsprachige Aufsätze, wenn sie denn Französisch oder Englisch waren, zu übersetzen, wozu auch? Und wenn die Sprachbarriere nicht existierte, nahm man natürlich aus diesen Bereichen auch Informationen leichter auf, als dies heute der Fall ist - also habe ich fremdsprachige Titel aufgelistet - falls sie in der einschlägigen Presse erwähnt wurden.

Und wozu das Ganze?

Die Abstinenz- und Temperenzbewegung ist heute weitgehend vergessen., aber sie war einmal außerordentlich stark und in sich sehr vielfältig, auch widersprüchlich. Daß sie untergegangen ist, hat natürlich Gründe - und ihnen gilt es nachzugehen. Das ist nicht nur interessant, sondern auch für die Zukunft von großer Bedeutung, zumal wir in der Drogenpolitik offensichtlich an einem Wendepunkt stehen. Theoretisch sind zwei Extreme möglich: Auf der einen Seite steht das völlige Verbot aller Drogen unter Einschluß von Alkohol und Tabak, was aber heute, nach den Erfahrungen der amerikanischen Prohibition niemand fordert, und auf der anderen Seite die völlige Freigabe aller Gifte. Was aber wird geschehen, wenn für Heroin etwa ebenso aggressiv geworben wird wie für Alkohol? Und wollen wir wirklich, daß die Kioske gegenüber den Schulen neben Schokolade, Zigaretten und Bier auch Haschisch, Kokain und Heroin vertreiben? Hier werden Ängste wach, die auch den liberalsten Vertreter einer freizügigen Drogenpolitik zögern lassen. Wenn wir aber davon ausgehen, daß die Prohibitionspolitik nicht nur beim Alkohol, sondern auch beim Haschisch, Kokain und beim Heroin gescheitert ist, zumindest aber zu scheitern droht, bleibt eigentlich nur noch eine Lösung: der Neuaufbau einer Abstinenzbewegung, die dem Drogenkonsum notwendigerweise Grenzen zieht, auch wenn das Verbot aufgehoben werden sollte - allerdings Grenzen, die nicht von der Obrigkeit gezogen sind, sondern von jedem Einzelnen bestimmt werden.

Wenn das aber der Weg sein sollte, dann stellt sich die Frage, warum die Idee der Abstinenz, die das bewirken könnte, wenn sie nicht zur Ideologie verkommt, so gründlich gescheitert ist. Ich widme meine Arbeitskraft seit Anfang der achtziger Jahre diesem Problem mit wachsender Intensität und glaube, jetzt einige Antworten vorlegen zu können. Vor allem aber ist mir klar geworden, daß das Arbeitsgebiet für einen Einzelnen viel zu groß ist. Und schließlich: wenn wir Einsichten gewinnen wollen - von Wahrheit will ich gar nicht reden - dann nur durch den Diskurs, an dem naturgemäß viele teilnehmen sollten. Er wird bewirken, daß die Ruinen der alten Abstinenz- und Temperenzorganisationen, so weit sie noch bestehen, abgetragen werden und daß wir herausfinden, ob der Grund dann ein neues Gebäude trägt. Ich halte es also für wichtig, daß ich, noch bevor ich meine Ergebnisse vortrage, zunächst einmal Quellen zugänglich mache, um es so andern leichter zu machen, sich dieses Themas anzunehmen. Und ich bin ganz sicher, daß deren Ergebnisse von denen, die ich gewonnen habe, abweichen werden, ja, daß ich Widerspruch erfahren werde - aber genau das möchte ich provozieren.

Ich lebe seit einem Vierteljahrhundert abstinent und wirke dem Drogenkonsum entgegen - und zwar nicht nur durch das persönliche Beispiel, sondern beispielsweise auch durch diese Arbeit. Natürlich habe ich den Wunsch, daß die Abstinenzbewegung wieder auflebt - ich denke auch, daß sie wichtiger denn je ist, allerdings sehe ich die Hindernisse, die sich auftürmen und die wahrlich nicht niedrig sind. Allein wird es mir sicher nicht gelingen, sie beiseite zu räumen oder zu überwinden - ob ich Mitstreiter finde? In der Geschichte der Abstinenz- und Temperenzbewegung spielen, wie so oft, wenn es um den Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit geht, die Quäker eine ebenso diskrete wie rühmenswerte Rolle. Und deshalb soll am Ende dieses Arbeitsberichts jener zuversichtliche Satz stehen, den man sich in einer solchen Situation in der Gesellschaft der Freunde, so ihr offizieller Name, zurufen würde: Der Geist wird es wirken.

Schon Tiere betrinken sich

Der Alkohol, genauer gesagt: das Äthanol, begleitet den Menschen sozusagen seit Adam und Eva. Man sagt, dass bereits Elefanten und Affen in der Steppe der Tropen gegorene Früchte aufsuchen, um sich daran zu berauschen. Wenn das so ist, können auch Menschen sich so bedient haben. Auf jeden Fall beherrschten schon die Sumerer die Kunst des Bierbrauens und Ägypten galt im Altertum sozusagen als das Bayern der Antike. Die Technik des Weinkeltern ist sicherlich ebenso alt, wenn nicht sogar älter - kurzum: der Rausch gehört schlicht zur menschlichen Geschichte und ist deshalb auch nicht aus ihr wegzudenken. Das gilt übrigens auch für die meisten anderen Kulturen, nur dass man nicht immer Äthanol konsumierte, sondern gelegentlich andere Substanzen, die bei uns aber, wenn ich einmal vom Haschisch absehe, keine Rolle spielen. Und natürlich gab es auch immer das, was wir als Missbrauch bezeichnen. Schon Jesus Sirach warnt in den Apokryphen zum Alten Testament vor den schädlichen Wirkungen des Konsums äthanolhaltiger Getränke, und in der Antike treffen wir gelegentlich den einen oder anderen Menschen an, den wir als Alkoholiker bezeichnen können, so beispielsweise König Alexander den Große, der im Rausch seinen besten Freund erstach. Indes war der Alkoholismus kein Massenphänomen, denn der gewöhnliche Sterbliche trank schlicht Wasser. Wer zum Alkoholiker werden wollte, brauchte zum einen Geld und zum Zeit, genauer gesagt: Lebenszeit. Da aber die meisten Menschen arm waren und früh starben, konnten sie nicht das ausbilden, was wir als Sucht bezeichnen, auch wenn sie sich gelegentlich betranken.

Das wurde anders, als man den Branntwein erfand. Die Legende sagt, dass das in Italien geschehen sei. Als in Modena irgendwann im 15. Jahrhundert die Weinernte missriet, kam jemand auf die Idee, das mühsam gekelterte Produkt durch einen Destillierkolben zu schicken und dann die Flüssigkeit, die er so gewonnen hatte, zu trinken - und siehe da: es schmeckte und hatte sogar eine euphorische Wirkung. Und als man dann noch entdeckte, dass gebrannte Wein Schmerzen unterdrückte, glaubte man nicht nur ein neues Getränk, sondern vor allem ein Medikament in der Hand zu haben, das man faktisch gegen alle Krankheiten einsetzen konnte. Ganz schön blöd, würde wir heute sagen, aber wir müssen bedenken, dass man Krankheiten damals so gut wie hilflos ausgeliefert war. Im Altertum hatten Hippokrates und Galen zwar erstaunliche Entdeckungen gemacht, aber seitdem war man in der medizinischen Wissenschaft nicht weiter gekommen. Im Prinzip war es so, dass man Verletzungen ganz gut behandeln konnte, dass man aber allen inneren Leiden hilflos gegenüber stand. Vor allem hatte man von den Ursachen keine Ahnung, weswegen man sehr oft meinte, eine Krankheit geheilt zu haben, wenn es gelungen war, die Symptome, vor allem Schmerzen, zu unterdrücken. Der Irrtum, dass man mit dem Branntwein ein Allheilmittel in der Hand hatte, war also verständlich, und er hielt sich auch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Noch vor 50 Jahren gehörte die Cognac-Flasche zum Standard-Angebot einer jeden Apotheke und wenn jemand erkältet ist, wird ihm noch heute als Therapie eine tüchtige Portion Grog empfohlen, so recht nördlich nach dem Rezept:: „Rum muss, Zucker kann, Wasser braucht nicht sein."

Allerdings bemerkte man auch sehr früh, dass der Branntwein dieselben schädlichen Wirkungen hatte, die man vom Wein und vom Bier bereits kannte, weshalb schon im dem 16. Jahrhundert in deutschen Städten Vorschriften erlassen wurden, die darauf abzielten, den Schnapskonsum vor allem in der armen Bevölkerung zu begrenzen. Damit begann eine Auseinandersetzung, die vier Jahrhunderte andauerte, bis sie wissenschaftlich entschieden war, dennoch aber bis heute nicht abgeschlossen ist. Auf der einen Seite standen diejenige, die den Branntwein für ein Heilmittel hielten und an dieser Meinung auch hartnäckig festhielten, und auf der anderen diejenigen, die der Ansicht waren, dass er vielmehr ein Gift sei, das eigentlich verboten werden müsse. Die Diskussion begann bereits am Ende des 15. Jahrhundert, verstummte dann in Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges, weil man in diesen Jahrzehnten andere Sorgen hatte, und brach schließlich im 18. Jahrhundert wieder auf, als sie in zahlreichen medizinischen Dissertationen ihren Niederschlag fand. Während dessen drang aber der Branntwein immer mehr in den täglichen Konsum ein, nicht zuletzt durch das Militär, für das der Schnaps zu einem unentbehrlichen „Mutwasser", so ein Ausdruck aus dem Ersten Weltkrieg, wurde, das zugleich den Verwundeten die Schmerzen linderte und den Sterbenden die Todesangst nahm.

Die Erste Mäßigkeitsbewegung

Die alkoholpolitische Diskussion, die in Deutschland im 19. Jahrhundert einsetzte, lässt sich nicht verstehen ohne einen Blick auf die gleichzeitigen sozialen Prozesse in Amerika. Hier waren im 18. Jahrhundert die USA entstanden. Die junge Föderation entwickelte sich rasch auf Grund eines Dreieckshandel, dessen Basis der Kauf und Verkauf schwarzer Sklaven aus Afrika war, die auf den lateinamerikanischen Zuckerrohr-Plantagen vor allem auf den Antillen arbeiten mussten. Das Produkt dieser Unternehmungen wurde von den Amerikanern zu Rum verarbeitet und nach Großbritannien geliefert, aber auch im eigenen Land konsumiert wurde, was sehr erwünscht war, wenn die Indianer ihn tranken, weil so ihre Widerstandskraft entscheidend geschwächt wurde, aber auf wenig Verständnis stieß, wenn die eigenen Arbeiter, statt das Bruttosozialprodukt zu mehren, wie das in einem modernen Schlager ausgedrückt wird, irgendwo in einer Ecke lagen und ihren Rausch ausschliefen. Verständlich, dass die Unternehmer der USA gegen den Branntweinkonsum agitierten, wobei sie die Unterstützung der jeweiligen Kirchen fanden, denn wer seine Arbeit vernachlässigte, weil er dem Branntwein verfallen war, verelendete und wurde damit zum Gegenstand der Wohlfahrtspflege, verursachte also Kosten und fiel lästig. Natürlich wollten diejenigen, welche die eigentliche Gesellschaft bildeten, auf ihr Gläschen Rum oder, später, Whiskey nicht verzichten, weshalb man zunächst von einem Schnapsverbot nichts wissen wollte, zumal man auch der Erfahrung gemacht hatte, dass der Schnaps bei denjenigen, die körperlich arbeiten mussten, letzte Kraftreserven mobilisierte. Ein Verbot der Droge also nicht infrage, aber zu einem mäßigen Konsum konnte sich die Oberschicht verstehen, und das verlangte sie dann auch von ihren Dienstboten und allen anderen. Damit war die Mäßigkeitsbewegung in den USA etabliert, und sie erreichte dann in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts auch Deutschland.

Der Missionar, der die Welle lostrat, hieß Robert Baird und war, wie konnte es anders sein, Pfarrer. Er hatte ein Buch über die Geschichte der amerikanischen Temperenzgruppen geschrieben, das, die Götter mögen wissen, auf welchem Wege, in die Hände des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. geraten war und diesen nun veranlasste, das Werk übersetzen zu lassen und an die Pfarrer seiner Staaten zu verteilen. So geriet ein Exemplar an den Pastor Böttcher, der sich in einem Dorf bei Hannover langweilte, nun aber die Aufgabe, die Mäßigkeitsbewegung auch in Deutschland einzupflanzen, aufgriff und sehr effektiv verwirklichte. Die organisatorische Leistung des Mannes ist enorm, denn noch gab es keine Eisenbahn und die Postverbindungen waren überaus langsam und auch unsicher - dennoch brachte er es zuwege, dass ganz Deutschland von einem Netz von Mäßigkeitsgruppen überzogen wurde, welche tatsächlich bewirkten, dass so mancher Destillationsapparat stillgelegt werden musste, weil die Kunden ausblieben. Natürlich war es überaus hilfreich, dass die Obrigkeit nachhalf. Das gilt nur für Friedrich Wilhelm III. von Preußen, sondern auch für manche seiner Kollegen, so etwa dem Großherzog von Oldenburg. Typischerweise gründeten jeweils der Pfarrer und der Amtmann in einem Dorf den Mäßigkeitsverein, dem dann die großen Bauern beitraten. Wenn diese beiden Spitzenfunktionäre sich allerdings verweigerten, dann kam auch keine Gruppe zustande. Anders also als die Turnvereine und die Gesangvereine, gehörten die Mäßigkeitsvereine nicht zur revolutionären Bewegung des Vormärz., sie waren also nicht liberal, sondern überaus konservativ, was übrigens auch für den Pfarrer Böttcher galt.

Wenn die Erste Mäßigkeitsbewegung also in den Wirren der 48er-Revolution unterging, so lag das wahrscheinlich nicht so sehr an ihrer politischen Richtung, sondern an anderen Mängeln. Ich nenne einige:

In den Quellen lesen wir zwar regelmäßig, dass ein Mäßigkeitsverein gegründet wurde - aber was geschah dann? Man kann sehr wohl Gruppen bilden, deren Mitglieder gemeinsam etwas tun, indem sie beispielsweise gemeinsam turnen oder singen, aber es ist nicht möglich, Menschen zusammenzuhalten, indem sie zusammen etwas unterlassen.

Dann ging man Kompromisse ein, die durchaus tödlich waren. So gab es in den Satzungen zwar immer die Bestimmung, dass Mitglieder eines Mäßigkeitsverein sich verpflichteten, keinen Branntwein zu trinken, aber dann folgte die Einschränkung, dass man dann Schnaps konsumieren dürfe, wenn es die Landessitte erfordere. Man verschloss also das Hauptportal, öffnete aber zugleich die Hintertür, durch die man der Verpflichtung entgehen konnte.

Hinzu kam, dass die Chemiker just in diesen Jahrzehnten das Äthanol als das eigentliche Gift isolierten, das gleichermaßen im Schnaps, Bier und Wein die unerwünschten Wirkungen zeitigte. In der Mäßigkeitsbewegung agitierte man aber nur gegen den Branntwein und empfahl als Alternative vor allem das Bier (Wein wurde damals in Norddeutschland wenig getrunken). Diese Position ließ sich aber nun nicht mehr aufrecht erhalten.

Und schließlich ärgerte sich mancher Pastor über die moralische Arroganz der Mäßigkeitsapostel. Natürlich bemühten sie sich in ihren Dörfern, die jeweiligen Trunkenbolde auf den Pfad der Tugend zurückzulenken, aber dass man deshalb einen Verein gründen müsse, leuchtete ihnen nicht ein, schien ihnen sogar ein verwerfliches Beginnen zu sein, weil sich die Menschen so daran gewöhnen könnten, ihre Probleme selbst zu lösen, statt auf den Befehl der Obrigkeit zu warten oder aber das gnädige Wirken des Herrn/Herrn abzuwarten.

Letztendlich war es eben doch die Revolutionsfurcht, die, beispielsweise, König Wilhelm I. von Preußen veranlassten, anders als sein Bruder und sein Vater, die Temperenzbewegung nicht mehr zu unterstützen, auch wenn diese selbst treu zu Thron und Altar stand, was ihr aber weder während der Revolution noch danach etwas nutzte - die Menschen liefen ihr davon. Böttcher versuchte zwar, seine Mäßigkeitsbewegung wieder zum Leben zu erwecken, als der Revolutionslärm verklungen war, aber das gelang ihm nicht. Die Zeiten hatten sich zu sehr verändert.

Der zweite Anlauf

Während die Erste Mäßigkeitsbewegung langsam verörgelte, lief die Alkoholdebatte natürlich weiter. Warum der Äthanolverbrauch so wichtig war, können wir natürlich nur ahnen, aber wahrscheinlich war sie eine Folge der zunehmenden Industrialisierung, die ja auch zur Folge hatte, dass die individuelle Arbeit intensiviert wurde. Man konnte sich so etwas wie blaue Montage, die früher einmal üblich waren, einfach nicht mehr leisten. Hinzu kam, dass die Mechanisierung der Produktionsprozesse ein nüchternes Bedienungspersonal erforderte, kurzum: in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte die zweite Mäßigkeitsbewegung ein, die diesmal zunächst von dem Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke getragen wurde. Der Name sagt bereits, dass die Gruppe dort begann, wo Böttcher aufgehört hatte - nämlich bei der Bekämpfung des Branntwein-Konsums, aber es wurde sehr schnell klar, dass man dabei nicht stehen bleiben konnte. Wenn nämlich im Schnaps, im Wein und im Bier dasselbe Gift wirkte - und das war nunmehr allen klar -, dann hatte es keinen Sinn, die eine Darreichungsform zu diskriminieren, die anderen aber zuzulassen, aber ebenso wenig sah man einen Anlass, den Konsum äthanolhaltiger Getränke überhaupt zu verbieten, wie das in den USA zu dieser Zeit bereits propagiert wurde, vielmehr, so der Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, müsse es darum gehen, alle Menschen zu einem mäßigen Konsum äthanolhaltiger Getränke zu erziehen. Diesem Ansinnen konnten natürlich die Spitzen der Gesellschaft gerne zustimmen, denn nichts Anderes war in ihren Kreisen Praxis. Um ein Beispiel aus meiner Familiengeschichte anzuführen: Mein Großvater, der Kaufmann Hermann Brauer in Oldenburg, pflegte an jedem Abend eine halbe Flasche, also drei Gläser, St. Julien, das ist ein französischer Rotwein, zu trinken, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wenn er, was zweimal im Jahr geschah, ein großes Essen gab, das damals aus fünf Gängen bestand, dann wurde zum hors d'oeuvre ein Glas Sekt, zu jedem der Haupt-Gänge (Fisch, Geflügel, Braten) ein Glas Wein und zum Kaffee ein Glas Cognac gereicht - das waren also in drei und mehr Stunden 50 Gramm Äthanol - und das zweimal im Jahr. Diese Trinksitten schlossen, wenn sie eingehalten wurden, die Ausbildung eines Alkoholismus aus.

Nun stand natürlich auch ein solcher Verband vor der Frage, wie er das Vereinsleben gestalten sollte, denn um, wie mein Großvater, mäßig Äthanol zu trinken, braucht man keiner Gruppe beizutreten. Aber anders als die Mäßigkeitsbewegung der Ersten Mäßigkeitsbewegung fand der neue Verband ein Tätigkeitsfeld, auf dem er sich bewähren konnte: Die Gesetzgebung. Dabei kam ihm entgegen, dass er seine Mitgliedschaft aus Kreisen des gehobenen Bürgertums und des Militärs rekrutierte. So gehörten zwei preußische Feldmarschälle, nämlich Moltke und Steinmetz, zu seinen Gründungsmitgliedern, außerdem tummelten sich im Kreis der Mäßigen eine große Zahl von Pastoren und Ärzten, kurzum Männer von Besitz und Bildung, wie man damals sagte, die durchaus Einfluss auf die Ministerialbürokratie nehmen konnten. Natürlich betrieb man nicht die Prohibition, aber man nahm doch Einfluss etwa auf die Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches, dann war etwa die Gesetzgebung über das Gaststättenwesen ein wichtiges Feld der Vereinstätigkeit, kurzum: immer dann, wenn es um die sittliche Hebung des Volkswohls ging, waren die Pastoren des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke zur Stelle, und sorgten vor allem dafür, dass das Thema im Deutschen Reichstag nie ganz zur Ruhe kam.

Dabei wurde der Verband unterstützt durch eine Konkurrenz, die ihren Ursprung in Amerika hatte, aber seit 1884 auch in Deutschland tätig war, nämlich die Großloge II des Guttempler-Ordens. Die komplizierte Gründungsgeschichte dieses Verbandes soll hier nicht dargestellt werden. An dieser Stelle nur so viel: Die Guttempler entstanden 1853 im Staate New York und gründen sich ideologisch auf den Prinzipien der Freimaurer vor allem, dann der Baptisten, wobei eine Prise der Quäker-Moral hinzutrat. Sie vertraten also sehr früh wenigstens theoretisch die Gleichberechtigung aller Menschen, wandten sich also gegen die Sklaverei und gegen die Diskriminierung der Frau und setzten sich für die Demokratie im Allgemeinen, vor allem aber im eigenen Verband ein. In Sachen der Alkoholpolitik verlangte der Freimaurer-Orden von seinen Mitgliedern, dass sie, ich sage das im modernen Deutsch, keine bewusstseinsverändernde Drogen, insbesondere kein Äthanol zu sich nehmen und den Trinksitten entgegenwirken sollten, was bedeutete, dass Guttempler auch keine Drogen anboten. Darüber hinaus übernahmen die Guttempler von den Freimaurern den Gedanken, dass alle Menschen Brüder seien. Überdies verstehen sich die Guttempler heute als eine Organisation, die für den Frieden eintritt, wobei sie ihre Mitglieder aber nicht zur Wehrdienstverweigerung verpflichten. Bei dieser Forderung mögen die Quäker Pate gestanden haben. Den baptistischen Einfluss möchte ich besonders in dem familiären Charakter sehen, den die Guttemplergruppen hatten und zum Teil noch heute haben.

Man könnte meinen, dass der Guttempler-Orden eine unglaublich moderne Organisation war, aber es zeigte sich sehr bald schon in den USA, dass die Ideale nicht so leicht zu realisieren waren. Der Orden spaltete sich nämlich im 19. Jahrhundert, wobei ein Teil, um in den amerikanischen Südstaaten Fuß fassen zu können, zwar für die Gleichberechtigung der Schwarzen eintrat, diese aber in eigenen Gruppen zusammenfassen wollte, während ein anderer, der in England seinen Schwerpunkt hatte, das ablehnte, vielmehr forderte, dass die früheren Schwarzen als gleichberechtigte Mitglieder in die Logen eintreten sollten. Hier trat man also für die Integration der Schwarzen ein. Es gelang nun dem segregationistischen Teil des Ordens (der sich bald wieder mit der Mehrheit vereinigte), in Schweden Fuß zu fassen, und es waren Guttempler aus diesem Königreich, die den deutschen Zweig in Schleswig gründeten.

Die Bemerkung ist deshalb wichtig, weil er weitreichende Konsequenzen hatte. Die deutschen Guttempler traten nämlich konsequent - und das ist bis heute so - für die unbedingte Abstinenz von allen bewusstseinsverändernden Drogen, insbesondere vom Äthanol, ein - die übrigen Forderungen, die der Internationale Guttempler-Orden vertrat, war den deutschen Brüdern und Schwestern der Organisation dagegen nicht so wichtig, zumal hier andere Schwierigkeiten in den Vordergrund traten:

Da gab es zunächst die nationale Frage. Nordschleswig gehörte beispielsweise damals zwar zu Deutschland, genauer gesagt zu Preußen aber man sprach dort nicht nur Dänisch, man wollte auch zu dem Königreich im Norden zurückkehren, von dem man nach dem verlorenen Krieg im Jahre 1864 gewaltsam getrennt worden war. Der Konflikt zwischen den Deutschen und den Dänen erwies sich als unüberbrückbar und so entstanden damals zwei Großlogen, nämlich Deutschlands Großloge I des Internationalen Guttempler-Ordens in Nord-Schleswig und Deutschlands Großloge II im übrigen Reich. Damit wurde aber deutlich, was die entscheidende Schwäche des deutschen Guttempler-Ordens war, nämlich seine ausgesprochen aggressive deutsch-nationale Haltung, die von den Großtemplern Hermann Blume und Theo Gläß noch verstärkt wurde, doch davon später mehr.

Nun, diese Frage wurde nur ganz nebenher angesprochen, denn man hatte Wichtigeres zu tun,. Da gab es in der schleswig-holsteinischen Marsch das Problem des Braunbiers. In den Sumpfgegenden an Nordsee und Elbe gab es damals nämlich kein gutes Wasser gab und deshalb trank man gerne dieses Bier, zumal es kaum Äthanol enthielt, so dass man es ohne weiteres (noch zu meiner Zeit) auch Kindern gab. Aber die Tatsache, dass es fast alkoholfrei war, reichte den Oberen des Internationalen Guttempler-Ordens nicht, denn „fast" bedeutete eben, dass eben doch Äthanol darin enthalten war, wenn auch ganz wenig, aber die Satzung des Guttemplerordens war in diesem Punkt eindeutig: Wer der Organisation angehören wollte, verpflichtete sich, die Droge überhaupt nicht zu genießen, schlicht ratzeputz nichts - und so wurden die Vertreter des Braunbiers ausgeschlossen. Das war ein Rückschlag, aber in diesem Punkt kannte der Vorstand kein Wanken, zumal die Braunbierfrage nur in der Marsch ein Problem war, woanders nicht, und so konnte sich der Orden rasch weiter und weiter verbreiten.

Die Ursache lag wahrscheinlich in der umfangreichen Kulturarbeit des Ordens. Er hatte nämlich die Frage, wie die allwöchentliche Routine der Gruppenarbeit zu lösen war, auf seine Weise gelöst. Wir müssen uns klar machen, dass weder der Orden noch der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke „Selbsthilfegruppen" im modernen Sinne waren, denn beide nahmen nur solche Menschen in ihre Organisationen auf, die von deren Prinzipien bereits überzeugt waren, was im Falle des Guttempler-Ordens bedeutete, dass nur derjenige oder diejenige in den Kreis der Brüder und Schwestern eintreten durften, die bereits äthanol-abstinent lebten. Die fand man aber durch eine intensive Öffentlichkeit im Sinne einer alkoholfreien Existenz, also durch Publikationen aller Art, Vorträge und nicht zuletzt durch drogenfreie Bälle. Wer hier also von dem Prinzip überzeugt worden war, dass es für das eigene Wohl besser war, auf den Genuss von Schnaps vor allem, aber auch Bier und Wein zu verzichten, ließ sich auch leicht für die anderen Grundsätze des Guttempler-Ordens gewinnen, zumal die deutsche Organisation genau im Trend der damaligen Zeit lag, wenn auch in einem anderen Sinne als seinerzeit die Segregationisten.

Die, so sagte ich bereits, bekannten sich zwar zu den Prinzipien des Guttempler-Ordens, nämlich der Abstinenz, der Brüderlichkeit und des Friedens, gewichteten sie aber unterschiedlich: An der Abstinenz hielten sie ohne Einschränkung fest, aber im Falle der Brüderlichkeit waren sie bereit, Kompromisse mit den Rassisten der Südstaaten einzugehen, denn, so ihr Argument, wenn sie dazu nicht bereit warenm konnten sie dort den ehemaligen Sklaven in ihrer Not nicht helfen. In Deutschland stellte sich die Frage auch - aber in einer anderen Weise: Hier war der Guttempler-Orden zwar von den neutralen Schweden gegründet worden, aber die ersten Mitglieder fanden diese unter den Dänen, die nach dem verlorenen Krieg von 1864 unter deutsche, schlimmer noch, preußische Herrschaft geraten waren und nun ihren Protest gegen diese Vergewaltigung zwar gewaltfrei, aber unmissverständlich zumAusdruck brachten, beispielsweise in dem sie darauf achteten, dass die Fugen ihrer unverputzten Backsteinhäuser stets in einem makellosen Weiß strahlten, so dass den preußischen Beamten, wenn sie durch die Dörfer gingen, an jedem Haus die dänischen Kreuze entgegenstrahlten - so war die Demonstration jedenfalls gemeit und so wurde sie auch verstanden. Die Dänen waren also „Reichsfeinde" - und sie bildeten die erste Klientel des internationalen Guttempler-Ordens in Deutschland.

Das brachte die Polizei auf den Plan, die den neuen Verband misstrauisch beobachtete. Das aber führte dazu, dass er zunächst von den preußischen Landräten und den ebenso patriotischen Pastoren behindert wurde, wo das möglich war, vor allem musste jeder, der sich dem Guttempler-Orden anschloss, vermuten, dass das seiner Karriere nicht gut tat. Die Folge war, dass der Versuch, eine Organisation zu bilden, in der Dänen und Deutsche nebeneinander im Sinne der Abstinenz, des Friedens und der Brüderlichkeit zusammenwirkten, bereits im Ansatz scheiterte. In Flensburg wurde zwar die Loge „Digynia" gegründet, genannt nach einer Blume mit zwei Stempeln, welche die beiden Sprachen symbolisieren sollten, aber das Beispiel machte keine Schule. Tatsächlich bildeten die Dänen einen eigenen Verband, Deutschlands Großloge I des Internationalen Guttempler-Ordens, während sich im übrigen Reich die Großloge II ausbreitete.

Das konnte geschehen, weil die Guttempler eine intensive Kulturarbeit entfalteten. Das geschah zunächst einmal in den Gruppen selbst. Dort beobachtete man zunächst einmal das Ritual, das, wie gesagt, weitgehend von den Freimaurern übernommen worden war und natürlich eine große Wirkung entfaltete, denn hier war man wer! Man stelle sich das vor: der von allen verachtete Trunkenbold von vorhin war zu dem Mitglied eines Ordens aufgestiegen, mehr noch, er konnte hier zum Kaplan, oder Vizehochtempler, gar Hochtempler oder Althochtempler aufsteigen, wenn er oder sie, denn Frauen waren gleichberechtigt, in eines dieser Ämter gewählt wurden. Und wer dazu nicht geeignet war, trat entweder als Außenwächter oder als Innenwächter an die Tür und passte auf, dass kein Unbefugter den Raum betrat. Und nicht nur das: Für den früheren Außenseiter war der Pastor, Arzt oder der Gymnasial-Professor, wenn sie dem Orden beigetreten waren, der „Bruder", denn die Titel, die damals so wichtig waren, fielen innerhalb des Ordens weg.

Die Guttempler-Loge war also eine sehr bunte Gesellschaft, deren Mitglieder, abgesehen von der Alkoholfreiheit, eigentlich nichts gemeinsam hatten, aber diese Differenzen wirkten sich für die Organisation vorteilhaft aus, denn so konnte es geschehen, dass diejenigen, die etwas mitzuteilen hatten, in der Sitzung einen Vortrag über das hielte, was sie interessierte. So kamen der Pastor, der Arzt und der Lehrer , aber auch der Arbeiter, der nebenbei einen Kleingarten bewirtschaftete, oder der Kaufmann, der in seiner Freizeit Briefmarken sammelte. Im übrigen feierte man Geburtstage, Jubiläen, bereitete man den Besuch des nächsten Distriktstages vor, empfing man den Besuch anderer Gruppen oder des Distriktstemplers oder seines Stellvertreters, kurzum: man war sehr beschäftigt. Und aus all diesen Aktivitäten differenzierten sich besondere Guttempler-Gruppen heraus. Es gab nämlich Guttempler-Gesangvereine, Guttempler-Radfahrvereine, Guttempler-Wandervereine und einiges mehr. In den Gruppen wurde also eine intensive Bildungsarbeit geleistet, um demjenigen, der sich der abstinenten Lebensweise verschrieb, eine Alternative zum Äthanol zu bieten, sei es im Guttemplerorden selbst, sei es außerhalb.

Wie aber gerieten der Pastor und der Lehrer, gar der Gymnasial-Professor in eine Organisation, von der wir eben erfahren haben, dass sie im Verdacht der „Reichsfeindlichkeit" stand?

Nun, der erste Argwohn hatte sich erledigt, als die Dänen eine eigene Großloge in Deutschland gebildet hatten, die mit der deutschen Organisation kaum in Verbindung stand und schließlich nach dem ersten Weltkrieg in dem dänischen Verband aufging. Aber schon nahte neues Ungemach, denn dem Guttemplerorden konnte ja jeder beitreten, der den Prinzipien der Abstinenz, der Brüderlichkeit und des Friedens zustimmte, was natürlich auch für Arbeiter galt. Und sie kamen in der Tat. Der Guttempler-Orden war vor dem Ersten Weltkrieg stolz darauf, dass er einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft bildete, also auch eine große Zahl von Proleten aufgenommen hatte, die auch dann mit gutem Gewissen beitreten konnten, wenn sie Sozialdemokraten waren, denn trat diese Partei nicht auch für die „Brüderlichkeit" und den „Frieden" ein? Und was sollte sie gegen eine alkoholfreie Lebensweise einwenden? In der Theorie natürlich nichts - in der Praxis sehr viel, denn man darf nicht vergessen, dass die Gewerkschaftshäuser zugleich Kneipen waren und dass die Arbeiter ihre Heime mit dem Bier bezahlten, das sie dort tranken. Und wo es keine Gewerkschaftshäuser gab, versammelten sich die Genossen in irgendwelchen Pieseleien, deren Wirte sehr oft gemaßregelte Funktionäre waren, alles gewichtige Gründe für die Parteiführung, die alkoholgegnerische Bewegung ihrer Zeit möglichst nicht zu beachten, was so weit ging, dass der Arbeiter-Abstinentenbund, der sich schließlich bildete, von dem Establishment der SPD nach Kräften behindert wurde und deshalb nie ganz zu Kräfte kam.

Und diese Abneigung wurde von den Alkoholgegnern von ganzem Herzen erwidert. Im Falle des Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke ergab sich die Gegnerschaft schon aus dem Namen: wer so sein „Deutschtum" betonte, konnte natürlich nicht sozialdemokratisch sein, zumal wenn zwei preußische Feldmarschällen zu seinen Gründungsmitgliedern zählten, aber bei dem Guttempler-Orden war das etwas anderes, denn er war ja eine internationale Organisation, also eben nicht national. Dennoch trimmten insbesondere die Großtempler Hermann Blume und nach ihm Theo Gläß die Organisation konsequent auf einen deutschnationalen Kurs - und das weit vor dem Ersten Weltkrieg. Damit machte sich die deutsche Großloge die offizielle Ideologie des wilhelminischen Deutschlands zu eigen und gab so die Prinzipien der Brüderlichkeit und des Friedens auf. Damit bewahrte sie als Aufgabe nur noch die Abstinenz, aber auch die nur in einem Sinne, der sie für die Ideologen des Kaiserreichs akzeptabel machte. Die Guttempler waren nämlich nicht abstinent, weil es ihrer Gesundheit gut tat, sondern weil sie so dem Gemeinwohl dienten. Das aber sahen sie dann gewährleistet, wenn das Rasengift Äthanol von den Deutschen ferngehalten wurde. Damit gerieten die deutschen Guttempler - der Internationale Orden hat sich dieser Position nie angeschlossen - auf die schiefe Bahn, welche die Organisation ganz konsequent in ein Bündnis mit der NSDAP hinein führte.

Aber das war damals Zukunftsmusik. Zunächst konnte sich die Deutschlands Großloge 2 in den allgemeinen nationalen Konsens einfügen, der besagte, dass die arische Rasse in der Entwicklung der Menschheit sozusagen die Avantgarde bildete und innerhalb dieser Spezies die germanischen Völker und unter ihnen wiederum die Deutschen die Spitze der Spitze darstellten, eine Position, die durch den Äthanolmissbrauch arg gefährdet war, weswegen die Abstinenz der Guttempler vor allem eine vaterländische Leistung war, die bedeutete, dass sie wiederum zur rassischen Elite gehörten, auf jeden Fall ein Muster darstellten, dem alle eigentlich hätten nacheifern sollen. Ich gebe zu, dass ich damit auf diese Weise die Position der Guttempler karikiere, aber ich glaube nicht, dass ich die damalige tatsächliche Selbsteinschätzung der Deutschen im Allgemeinen und der Guttempler im Besonderen sehr falsch darstelle. Wie verbohrt man damals war, lehrt diese kleine Überlegung: Der Guttempler-Orden entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA, genau gesagt: im Staat New York. Er wanderte dann nach England und von dort aus nach Skandinavien und schließlich nach Deutschland. Es hätte nun nahe gelegen, dass die deutschen Brüder und Schwestern die Botschaft der Abstinenz nach Polen weiter getragen hätte, zumal es in Oberschlesien, Posten und Westpreußen starke Minderheiten dieses Volkes gab, aber das geschah nicht, vielmehr betrachteten sich die dortigen Guttempler-Loge, die es durchausgab, als Vorposten im Kampf der Germanen gegen die Slawen. Und dasselbe geschah in den Kolonien: zwar taucht - ganz vorübergehend - einmal der Gedanke auf, die Organisation auch in Afrika zu etablieren, aber man hat in der Guttempler-Zentrale nur die weiße Bevölkerung im Blick - die Einheimischen kommen einfach nicht vor, denn sie sind ersichtlich für die deutschen Guttempler keine Brüder und Schwestern. Die Schwarzen werden nicht als Affen bezeichnet, aber man behandelt sie so, d.h. an beachtet sie nicht weiter.

Diese Arroganz war indessen damals normal und verband alle alkoholgegnerischen Organisationen miteinander. Man stritt sich indessen lebhaft über die Frage, ob die Temperenz oder die Abstinenz vorzuziehen war. Für die erste trat der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke ein, für die letztere der Guttempler-Orden, und beide verfügten über zahlreiche Bundesgenossen in Gestalt von Verbänden, die sich meistens an die Angehörigen bestimmter Berufe wandten, so die Bahnbeamten, die Pastoren, die Lehrer und was dergleichen waren. Sogar das Militär wurde von der Abstinenzbewegung erfasst, wobei Kaiser Wilhelm II. die Alkoholgegner in der Marine besonders förderte, nicht aber die im Heer, wo es aber trotzdem vereinzelte Gruppen von Offizieren und Unteroffizieren gab, die dem weit verbreiteten Suff entgegenzuwirken trachteten. Eine besondere Rolle spielten die beiden Blauen Kreuze (von denen eines landeskirchlich, das andere freikirchlich war): Sie verlangten die Abstinenz von ihren Mitgliedern nicht wie die Guttempler auf Lebenszeit, sondern nur für eine Zeitlang, die jeder selbst bestimmen konnte. Der Gedanke war folgender: Wenn ein Pfarrer seiner Gemeinde als Vorbild dienen wollte, konnte er sich für die Dauer seines Dienstes zur Abstinenz verpflichten. Warum aber sollte er auf seinen Schoppen verzichten, wenn er ganz woanders im Ruhestand lebte und sich niemand mehr um ihn kümmerte, er also auch nicht mehr als Vorbild dienen konnte, an dem sich andere moralisch ausrichten sollte? Schließlich muss ich noch eine Organisation erwähnen, die der Schweizer August Forel ins Leben rief: Der Neutrale Guttempler-Orden. Dieser Psychiater, Chefarzt des Krankenhauses Burghölzli, billigte zwar die Prinzipien des Internationalen Guttempler-Ordens und hielt auch sein Lebtag an ihnen fest, aber ihm ging der aggressiv-nationale der deutschen Brüder und Schwestern auf die Nerven, wiewohl er den Rassismus, der dem zugrunde lag, teilte. So gründete er also einen „neutralen" Orden, der keine Ideologie vertrat, sich vielmehr auf die Therapie der Alkoholkranken konzentrierte. Forel entwickelte sich unter dem Eindruck der Ereignisse des Ersten Weltkriegs zum entschiedenen Pazifisten und schloss sich am Ende seiner Tage, als die Entwicklung längst über ihn hinweg gegangen war, den Bahai an.

Wir haben es also vor dem Ersten Weltkrieg mit einer sehr vielfältigen alkoholgegnerischen Bewegung, die sich im Großen und Ganzen in drei Säulen gliederte:

Da gab es zunächst den Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, der sich der Mäßigkeit verschrieben hatte, also das soziale Problem des Alkoholismus zu lösen suchte, indem er den Einzelnen überredete, weniger Äthanol zu sich zu nehmen. Darüber hinaus kümmerte er sich um politische Maßnahmen, die im Prinzip auf eine Gefahrenabwehr hinausliefen. In diesem Verband organisierte sich die gesellschaftliche Elite des Reiches, so weit sie an dem Thema interessiert war.

Dann finden wir die Deutsche Großloge II des Internationen Guttempler-Ordens, deren Mitglieder überhaupt kein Äthanol zu sich nahmen und die darüber hinaus den Trinksitten entgegenwirkten. Daneben gab es noch kleinere Guttempler-Gruppen, die in der Praxis genauso verfuhren, nur dass sie nicht der Großloge II angehörten. So wurde in der Großloge I dänisch gesprochen, dann gab es Oldenburg, Wilhelmshaven und Elbing weitere Gruppen, die aber regional begrenzt waren. Der Neutrale Guttempler-Orden hatte zwar einige Gruppen in Deutschland, war aber vor allem in der Schweiz verbreitet.

Die dritte Säule wurde von den religiösen Gruppen gebildet, nämlich von dem Blauen Kreuz der Freikirchen, dem Blauen Kreuz der Landeskirchen und dem Kreuzbündnis der Katholischen Kirche. Natürlich gab es auch hier zusätzlich Vereine, die sich an eine spezielle Klientel wandten.

Einig waren sich alle diese Verbände (mit Ausnahme der Neutralen Guttempler) einmal im Bekenntnis zum deutschen Nationalismus und damit in der Ablehnung der humanistischen Prinzipien, wie sie etwa die Weltloge der Guttempler vertraten und dann in der Ablehnung des Alkohols, wobei es hier jedoch nicht nur Unterschiede, sondern gewaltige Gegensätze gab, die vor allem auf dem Kongress gegen den Alkoholismus, der 1903 in Bremen stattfand, zwischen dem Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke und dem Guttempler-Orden aufbrachen und der noch heute die ganze Bewegung lähmt.

Ich referiere noch einmal die gegensätzlichen Standpunkte: Die Mäßigen waren der Meinung, dass Äthanol, in geringen Mengen genossen, nicht nur nicht schadet, sondern sogar zumindest in sozialer Hinsicht, möglicherweise aber auch medizinisch einen Nutzen bringt. Vor allem aber, so betonten sie, seien alkoholische Getränke seit Jahrtausenden in die Gesellschaft integriert, weshalb es nicht darum gehen könne, die Droge zu verbieten, vielmehr müssen man den Einzelnen dazu bringen, sie nur mäßig zu gebrauchen, dann sei sowohl jeder individuelle als auch gesellschaftliche Schaden ausgeschlossen.

Die Abstinenzler hingegen gegen davon aus, dass Äthanol ein Gift ist, dass jedem in jeder menge schadet und forderten deshalb, dass die Droge verboten würde. Der Hebel, de man benutzte, war das Gaststättenrecht, das damals noch den Gemeinden das Recht einräumte, Konzessionen zum Alkoholausschank zu erteilen oder aber, wenn nach Ansicht der örtlichen Behörde ein Bedürfnis vorlag, zu verweigern. Die Guttempler traten also, nach amerikanischem Vorbild, für das „Gemeindebestimmungsrecht" ein, d. h. sie wollten erreichen, dass die Prohibition durch Volksabstimmungen zunächst in möglichst vielen Kommunen und danach im ganzen Reich eingeführt würde. Was jedoch in den USA gelang, dann allerdings zum Pyrrhus-Sieg wurde, scheiterte in Deutschland vor allem, weil hier die Verwaltungen viel zu stark und zu selbstbewusst waren, als dass sie sich von ihren Untertanen eine bestimmte Politik aufzwingen ließen. Diese Diskussion war im vollen Gange, als der Erste Weltkrieg ausbrach und die Mäßigen wie die Abstinenzler zu den Fahnen eilten. Das Ereignis war für den Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke kein Problem - für die Guttempler erstaunlicherweise auch nicht. Zwar gehörte die deutsche Großloge dem Weltverband an, in dem sich alle Mitglieder gegenseitig als „Brüder" Und „Schwestern" bezeichneten, aber das hinderte die deutschen „Geschwister" in keiner Weise, den englischen und später den amerikanischen Gesinnungsgenossen zu verletzen und zu töten. Mehr noch: Obwohl sie damals in keiner Weise dazu gezwungen wurden, kappten die deutschen Guttempler bereits im Ersten Weltkrieg die Internationalen Beziehungen und nannten sich hinfürdo „Deutscher Guttempler-Orden". Nach der Niederlage und nachdem sie in die Weltorganisation wieder aufgenommen waren, setzten sie dem Namen dann die Bezeichnung (IOGT)1 hinzu, und dabei sollte es, mit Ausnahme der Nazizeit, bleiben.

Der Alkoholismus wird zum Thema der Medizin

Der Branntwein, wir erinnern uns, galt zunächst als ein Allheilmittel und wurde erst allmählich in einer wissenschaftlichen Diskussion, die sich durch vier Jahrhunderte schleppte, als ein Gift entlarvt. Es war der schwedische Arzt Magnus Huss, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Leiden, das durch das Äthanol hervorgerufen wird, seinen Namen gab, nämlich „alcoholismus chronicus", worunter er allerdings nur das delirium tremens verstand. Immerhin hatte man jetzt einen Begriff, dem man nun einen Inhalt geben konnte, was dann auch in der in folgenden Diskussion geschah. Wenn aber der Alkoholismus eine Krankheit war, dann lag es nahe, dass man nach einer Therapie suchte. Während also die bisherigen alkoholgegnerischen Verbände, wenn überhaupt, den Trunkenbold zu bekehren trachteten und ihn dann, wenn das geschehen war, in ihre Kreise aufnahmen, wurde er nun zum Objekt therapeutischer Strategien, wobei sich dann die Spezialisten herausbildeten, die sich diesem Geschäft zunächst in den Irrenanstalten, die ohnehin bestanden, dann in besonderen Krankenhäusern widmeten. Dieser Prozess setzte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein und gewann dann in den folgenden Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung. Wichtig wurde in diesem Zusammenhang vor allem der bereits früher erwähnte Psychiater August Forel, der das schweizerische Krankenhaus Burghölzli bei Zürich leitete, und zwar vor allem, weil er die Therapie der Alkoholiker mit dem Prinzip der Abstinenz verband - ein Junktim, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde.

Dazu eine Anekdote: Forel war, als er in seinem Fachkrankenhaus mit der Therapie der Alkoholiker begann, wie alle seine Kollegen der Ansicht, dass man von den Kranken eine lebenslange alkoholfreie Lebensweise nicht verlangen könne. Dem trat der Psychiater entgegen, indem er dem Alkoholiker vom ersten Tage an in Burghölzli den Schnaps nahm. Die Entzugssymptome nahm er in Kauf, wohl auch in der Hoffnung, dass sie abschreckend auf den Patienten wirken würden. Dennoch tendierte die Heilungsrate in dem von Forel geleiteten Haus gegen Null tendierte, während ein Schuster in Zürich auf dem Gebiet der Alkoholiker-Therapie erstaunliche Erfolge hatte. das interessierte den Wissenschaftler. Er besuchte also den Mann und fragte ihn, worauf er seine Erfolge zurückführte, und die Antwort verblüffte ihn, denn der Handwerker sagte dem Arzt: „Oh, Herr Professor, der Grund liegt doch auf der Hand: Sie trinken Alkohol - und ich nicht!" So lernte der Professor, dass in seinem Gewerbe nicht nur die Botschaft, sondern auch der Bote überzeugend sein muss und das ist nur dann der Fall, wenn der Therapeut das praktiziert, was er von seinem Patienten (oder Klienten) verlangt, nämlich dass er alkoholfrei lebt - ein Punkt, der heute in den einschlägigen Kliniken gerne vergessen wird.

Wichtig wurde indessen, dass der Alkoholismus nicht mehr als ein moralisches Gebrechen definiert wurde, sondern als eine Krankheit, die nur dadurch geheilt werden konnte, dass der Patient kein Äthanol mehr zu sich nahm, also abstinent lebte. Um das zu erreichen, mussten zunächst die unmittelbaren Vergiftungserscheinungen, die durch den Alkohol hervorgerufen wurden, abgebaut werden, was die Aufgabe der Ärzte war, dann aber kam es darauf an, dass der Alkoholiker nicht mehr in seine alte Verhaltensweise zurückfiel, also in ein soziales Umfeld gebracht wurde, in dem idealerweise die Versuchung, die das Äthanol ja immer noch darstellte, nicht mehr präsent war. Die Gruppe, die bis dahin zwar eine propagandistische, nicht aber eine therapeutische Funktion hatte, bekam nun unter dem Einfluss der Alkoholiker-Therapie, die sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhundert durch Forel und andere herausbildete, eine neue Aufgabe, will sagen: Der Schwerpunkt der Arbeit verlagerte sich von der moralischen Verbesserung des Menschengeschlechts auf deren Heilung im therapeutischen Sinne.

Unter dem Einfluss der Mediziner, beginnend mit Magnus Huss um die Mitte des 19. Jahrhunderts. fand also eine Akzentverlagerung statt: Der Alkoholiker war nicht mehr der Übeltäter, der aus bösem Willen handelte, sondern das Opfer eines Vergiftungsprozesses, den er von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr beherrschen konnte. Wenn er also seine Familie vernachlässigte, seine Frau schlug, Geld stahl und ähnliche Untaten beging, war das alles die Folge einer Krankheit, die dann geheilt werden konnte, wenn der Patient das Gift, das die Ursache des Übels war, nicht mehr zu sich nahm. Die Aufgabe des Arztes bestand nun darin, den Prozess der Entgiftung zu begleiten, während die Abstinenz-Gruppe den Alkoholiker dann das Opfer gegen eine Umwelt schützte, die ihn jeden tag aufs Neue dazu verleiten wollte, wieder dem alten Übel zu verfallen. Die Guttempler-Loge oder der Blaukreuz-Verein hatten also in erster Linie nicht die Aufgabe, eine bestimmte Moral zu vertreten, sondern einen therapeutischen Prozess zu ermöglichen, was natürlich zunächst die Guttempler keineswegs daran hinderte, weiterhin die Prohibition zu vertreten, während die Verbände des Blauen Kreuzes das Evangelium predigten. Nur die Mäßigen fanden so recht keinen Platz in diesem Spektrum. Nach dem Ersten Weltkrieg suchten sie also eine neue Orientierung und legten deshalb ihren etwas sperrigen Namen ab und bezeichneten sich als „Deutscher Verein gegen den Alkoholismus" und suchten jetzt auch auf der neuen, therapeutischen Welle zu reiten, aber das wollte ihnen nicht so recht gelingen. Es war deshalb nur konsequent, dass die Organisation in der „NSV" (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt") aufging und damit verschwand.

Anders der Guttempler-Orden.

Der Kampf um den Nutzmenschen

Mit der Nazizeit wurden die Karten neu gemischt. Jetzt ging es nicht mehr um die Heilung Kranker, sondern um die Produktion des erbgesunden Menschen, der im Sinne der völkischen Ideologie einsetzbar war und zugleich um die Ausgrenzung und dann um die Vernichtung der Untermenschen, besonders der Juden. Die Frage war also nicht mehr, wie man dem einzelnen Menschen dazu verhelfen könne, dass er seine soziale Rolle finde, sondern welchen Nutzen die Führung aus dem Einzelnen noch ziehen konnte. Wenn das der Fall war, dann durfte der betreffende Mensch geheilt werden und weiterleben, wenn das aber nicht der Fall war, wurde er durch Arbeit verbraucht, dh. so geschunden, dass er möglichst bald starb. Die Aufgabe des Führungspersonals des Guttempler-Ordens bestand nun darin, die Nutzmenschen von den Schadmenschen zu trennen, dabei die ersteren zu heilen, die letzteren aber einem KZ zuzuführen waren, wo sie dann das oben skizzierte Schicksal erlitten. Dass die Juden dabei von Natur aus zu den Schadmenschen zu rechnen waren, so dass sich hier eine individuelle Prüfung erübrigte, verstand sich für das Führungspersonal des Guttempler-Ordens von selbst, weshalb diese sofort aus der Organisation ausgeschlossen wurden. Nun gab es in dem seit jeher deutschnational orientierten Guttempler-Orden nur sehr wenige Juden und die, die sich in die Organisation verirrt hatten, erfuhren erst durch die Nazis, dass sie es waren, aber sie wurden, so lässt sich zumindest an einem Fall dokumentieren, von Theo Gläss, gnadenlos gejagt, wobei die Frau, von der ich hier spreche, von dänischen Guttemplern gerettet wurde - von dänischen, nicht von deutschen.

Der Antisemitismus der deutschen Guttempler, der mit dem Beginn der Nazizeit offen zum Ausbruch kam, war es denn auch, der die nationale Organisation in Konflikt mit der Weltloge brachte. Nun sind die Guttempler im Prinzip friedliche Leute, die Konflikte hassen, und so bemühte sich die Internationale Loge, in der traditionellerweise die Schweden und Norweger die Führungspositionen innehaben, monatelang um einen Ausgleich mit den Deutschen, aber der erwies sich als unmöglich: Im Ausland wollte man eine nationale Organisation, die Juden aus Prinzip ausschloss, nicht im internationalen Orden dulden, und die deutschen Guttempler beharrten just auf diesem Punkt, nämlich das Juden in ihren Reihen nichts zu suchen haben. Damit schieden die deutschen Guttempler für die Dauer der Nazizeit aus dem internationalen Orden aus, nur dass sie diesmal schlicht hinausgeworfen wurden.

Damit war aber die Geschichte nicht zu Ende. Im Innern war der Orden aus mehrfachen Gründen gefährdet. Zunächst war da das Gruppenritual, das bedenkliche Anklänge an das der Freimaurer hatte. Das musste also im Sinne der Neuen Zeit korrigiert werden. Dann ging des um den Namen, denn nach der Nazii-Doktrin durfte es im Reich nur einen „Orden" geben und das war die SS. und so wurde denn aus dem Deutschen Guttempler-Orden, nachdem er das IOGT schon 1933 eingebüßt hatte, im Jahre 1937 der „Deutsche Bund zur Bekämpfung der Alkoholgefahren" - von der „Brüderlichkeit" und gar dem „Frieden" war nicht mehr die Rede. Dieser Wandel der Organisation, vor allem die von Theo Gläß intensiv betriebene Anpassung an die Nazi-Doktrin, hatte zur Folge, dass die Organisation, die einmal der Guttempler-Orden gewesen war, massiv Mitglieder verlor: Im Jahre 1933 gab es im Deutschen Reich 39.600 Guttempler. Davon waren bei Kriegsbeginn 20.500 übrig geblieben, obwohl der Guttempler-Orden zwischenzeitlich einige andere Organisationen geschluckt hatte und überdies in Österreich (seit März 1938 die „Ostmark" und dann 1940 im Warthegau neue Distrikte bilden konnte. Vor allem aber wurde die ehemalige Guttempler-Organisation dadurch gestärkt, dass ihr die Betreuung der Alkoholkranken überwiesen wurde, die weder evangelisch (sie wurden in den Blauen Kreuzen organisiert) noch katholisch (sie nahm das Kreuzbündnis auf) waren - Gläß hatte also in diesem Bereich eine Monopolstellung erlangt.

Gläß hat nach der Befreiung versucht, cor allem der Internationalen Loge klar zu machen, dass die alles geschehen sei, um die Alkoholiker in den „Heimen", so nannte man jetzt die Gruppen) vor dem Zugriff der Nazis zu schützen. Er rechnete es sich deshalb als großes Verdienst an, dass er die organisatorische Selbstständigkeit des Verbandes, der einmal der deutsche Guttempler-Orden gewesen war, während der Nazizeit habe bewahren können. In der Tat wurde die Organisation nicht, wie der ehemalige Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, von der NSV geschluckt, was sicherlich den guten Beziehungen zu verdanken war, die der Nazi Theo Gläß zu anderen Nazis unterhielt, wobei wohl in erster Linie der Leiter des Gesundheitswesens im Reich, Dr. Conti, zu nennen wäre, aber dieses Privileg wurde erkauft durch eine lückenlose äußere wie innere Anpassung an die Nazi-Ideologie, die deshalb so fabelhaft gelang, weil das, was die braunen Machthaber praktizierten, weitgehend mit dem übereinstimmten, was Hermann Blume und Theo Gläß schon immer gedacht hatten, was sie aber zeitweilig, so in der Weimarer Republik leugnen mussten. Wenn die Guttempler also in der Nazizeit ihre organisatorische Selbständigkeit bewahren konnten, so lag das nicht an ihrer Geschicklichkeit, sondern daran, dass ihr Führungspersonal - bis hin zur Ebene der Gruppenleiter - die Nazi-Ideologie aus Überzeugung vertraten und praktizierten mit der Folge, dass es für Alkoholiker ausgesprochen lebensgefährlich war, wenn sie in die Hände eines Guttemplers, wie beispielsweise Heinrich Nobel in Bremen, fielen, der sich nicht entblödete, das Privat-KZ eines Unternehmens im Teufelsmoor mit Sklaven zu beliefern, die er seiner Klientel entnahm. Wenn Heinrich Nobel nämlich befand, dass Jemand nicht erbgesund war, konnte es geschehen, dass er sich sehr rasch in besagtem Konzentrationslager wiederfand, wo er dann eine gute Chance hatte, durch Arbeit vernichtet zu werden. Und so verfuhren natürlich auch andere Guttempler - ihre Opfer bevölkerten also Himmlers Unterwelt und bildeten hier jene Masse, die in der Literatur über die Lager kaum je erwähnt werden, weil sozial geächtet waren. Sie waren nicht interessant, wie die Schwulen, besaßen keine mächtige Lobby, wie die Juden, ließen sich nicht als Alibi-Figuren nutzen, wie die wenigen Widerständler und Christen - sie waren zwar da, blieben aber der verachtete Bodensatz, mit dem sich nichts weiter anfangen ließ. Ich spreche hier von denen, die den schwarzen Winkel trugen, also als asozial galten, es in vielen Fällen auch wohl waren, was aber die brutale Behandlung, der sie unterworfen wurden, natürlich nicht rechtfertigt.

Es liegt auf der Hand, dass jemand, der noch in seinen Spiegel schauen wollte, ohne rot werden zu müssen, einer solchen Organisation möglichst rasch und unauffällig die Rücken kehrte, ist wohl verständlich - aber woher kamen denn die neuen Mitglieder, die es doch auch gab? Sehr einfach: Sie wurden dem Bund gegen die Alkoholgefahren zur Beobachtung und Bewährung zugewiesen. Man stelle sich vor, was sich da abspielte: Da spreizte sich vorne der Heimleiter, etwa Heinrich Nobel, und vor ihm duckten sich die Alkoholiker, immer in der Furcht, negativ aufzufallen, was an jedem Abend die Einweisung ins KZ bedeuten konnte. Ich will ja nicht abstreiten, dass es vielleicht den einen oder anderen gegeben hat, der die Situation nicht ausgenutzt hat, aber es gab mit Sicherheit auch jene, welche die Macht, über Leben und Tod der Opfer entscheiden zu können, sehr genossen haben - und kennen gelernt habe ich, als ich dem Orden angehörte, aus dieser Zeit nur diejenigen, die den Goldenen Tagen der Nazizeit nachtrauerten, auch wenn sie das zu verbergen trachteten. Nehmen wir als Beispiel Theo Gläß. Dieser Guttempler war während der Weimarer Republik Sozialdemokrat trat dann aber, wann, weiß man nicht, aus dieser Partei aus. Als die Nazis die Regierungsgewalt übernahmen, vertrat er, wie dargestellt, im Orden die völkische Ideologie mit brutaler Härte und trat auch der NSDAP bei. Nach der Befreiung schloss er sich dann erneut der SPD und stieg in Frankfurt zum Schuldezernenten der Stadtverwaltung auf. Während der ganzen Zeit leitete er, wenn wir von einer kurzen Zwangspause im Jahre 1945 absehen, den Guttempler-Orden, hoch verehrt von seinen Brüdern und Schwestern, die ihm natürlich das Märchen, das die Guttempler eigentlich keine Nazis gewesen seien, unbesehen glaubten - zumal sie es natürlich besser wussten. Natürlich es die alten Guttempler-Nazis, die sich nach der Befreiung wieder im Zeichen der blauen Weltkugel versammelten und wie nach 1918, sehr rasch wieder von der Weltorganisation aufgenommen wurden, ohne dass man dort peinliche Fragen stellte. Die anderen, die während der bösen zwölf Jahre zur Kontrolle in den Guttempler-Orden eingewiesen worden waren und hier vor ihrem Hochtempler zittern mussten, der sie jeden Tag ins KZ bringen konnten, waren ja nach der Befreiung erleichtert in die nächste Kneipe geflohen, um hier den Albtraum zu vergessen, und damit verschwunden.

Es blieb also ein kleines Häuflein zurück, das vor allem seine Identität verloren hatte, denn das, was die Guttempler unter Hermann Blume und Theo Gläß praktisch vertreten hatten, konnten sie jetzt nicht laut sagen, und was der Internationale Orden verlangte, mochte zwar über ihre Lippen kommen, war aber nicht ihre Meinung. In dieser Situation verbreitete sich eine Konkurrenz, der die Guttempler selbst nichts entgegen zu setzen hatten, schlimmer noch, deren Prinzipien sie praktisch weitgehend übernahmen, so dass nunmehr, da auch die konfessionellen Gruppen verschwunden waren, die Anonymen Alkoholiker die unumschränkte Herrschaft antraten.

„Ich heiße Willy und bin Alkoholiker"

Die Anonymen Alkoholiker betonen in ihrer Gründungslegende, dass ihre Organisation 1935 in Akron/Ohio entstanden sei. Das stimmt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Richtig dürfte sein, was dem Blauen Buch der „AA" nur angedeutet wird, dass der Verband in New York von amerikanischen von Industriellen unter der Führung des damals regierenden Rockefeller gegründet worden ist und zwar mit dem Ziel, für alle Zukunft die Entstehung einer neuen Prohibitionswelle in den USA zu verhindern. Wir können den wahren Zweck der Organisation am besten erschließen, indem wir die Prinzipien der Anonymen Alkoholiker mit denen der Internationalen Guttempler vergleichen:

Beginnen wir mit dem Namen. Zunächst ist typisch, dass derjenige, der eine Gruppe der AA besucht, zumindest seinen ersten Redebeitrag mit dem Satz beginnen muss: „Ich heiße Willy und bin Alkoholiker". Der Nachname bleibt sein Geheimnis, ebenso seine Adresse, aber er ist Alkoholiker, denn nur als solcher darf er eine Gruppensitzung - im Jargon „meeting" genannt - besuchen. Die Guttempler kennen ein solches Ritual nicht, denn bei ihnen hat jedes Mitglied wie auch jeder Gast einen Vor- und Nachnamen - und vor allem ist er nicht unbedingt ein Alkoholiker, denn Guttempler kann jeder werden, der keinen Alkohol noch eine sonstige bewusstseinsverändernde Droge, also Haschisch, Heroin, Kokain oder was sonst auf dem Markt ist, genießt und im übrigen für die Brüderlichkeit und den Frieden eintritt, wovon bei den AA nicht die Rede ist.

In den Gruppen der Anonymen Alkoholiker versammeln sich nur und ausschließlich solche, die sich als Alkoholiker definieren. Die Angehörigen gehören einer eigenen Organisation an und die Jugendlichen wieder einer anderen. Vergleichbare Organisationen gibt es für Tablettenabhängige und andere Gruppen. Die Mitglieder einer Guttempler-Gruppe leben zwar alle alkohol-abstinent, sind aber durchaus nicht immer alkohol-abhängig. Es gibt Guttempler, die in ihrem Leben noch nie einen Tropfen Äthanolgenossen haben weil die Eltern schon dazu gehörten und sie so in die Abstinenz hineingewachsen sind. In der Guttempler-Loge trifft der ehemalige Alkoholiker also auf Brüder und Schwestern, welche die Sucht aus eigener Erfahrung nicht kennen, woraus folgt, dass die Guttempler-Gemeinschaft kein Alkoholiker-Ghetto ist. Infolgedessen gibt es keine gesonderte Organisation für Angehörige, vielmehr kommen in einer solchen Loge gelegentlich ganze Familien zusammen, was erwünscht ist. Natürlich gibt es eine abgesonderte Guttempler-Jugend, aber das hat Gründe, die mit dem Prinzip der Anonymität nichts zu tun hat.. Für den Außenstehenden bedeutet der Sachverhalt, dass er dann, wenn er einen Klienten der Anonymen Alkoholiker kennen lernt, immer einen Menschen vor sich hat, der einmal der Sucht verfallen war oder dies noch immer ist, während er das bei einem Guttempler eben nicht weiß - er ist Mitglied eines Abstinenzvereins - mehr nicht. Bei dieser Gelegenheit: Das Prinzip der Anonymität lässt sich sicherlich in New York, wo die „AA" entstanden sind, realisieren, in einer Großstadt wie Oldenburg aber kaum und in kleineren Orten schon gar nicht, weil man sich da natürlich kennt. Da ist die Formel „Ich heiße Willy und bin Alkoholiker" ein reines Ritual, das in diesem sozialen Kontext sinnlos ist.

Der Guttemplerorden trennt also nicht den Alkoholiker von seinem Umfeld, sondern heißt ihn mit seinen Angehörigen und Freunden, wenn sie sich demselben Regime unterwerfen, willkommen..

In den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker bilden die 12 Schritte und die 12 Traditionen (das man Traditionen nummerieren kann, ist ein merkwürdiger Amerikanismus, aber der Katalog heißt nun einmal so) die Grundlage der Arbeit. Dabei dürfen die Mitglieder die Richtigkeit der einzelnen Abschnitte nur durch ihre persönlichen Geschichte bestätigen. Es ist keinesfalls gestattet, deren Richtigkeit zu diskutieren. So wird beispielsweise in dem ersten Schritt die eigene Machtlosigkeit bekannt und zugleich eine höhere Macht, die größer ist als wir selbst, angerufen - und was ist mit jemandem, der sich zum Atheismus bekennt und für den es keine größere Macht als den Menschen selbst gibt? Nun, der hat bei den Anonymen Alkoholikern nichts zu suchen. Sie selbst lösen das Problem, indem sie schlicht dekretieren, dass es einen solchen Menschen nicht gibt - ich existiere nach deren Dogma also nicht. Die Guttempler kennen ein solches Programm nicht. In den Sitzungen geht es darum, dem Einzelnen Anregungen zur Gestaltung seines Lebens zu geben, denn nehmen wir einmal an, dass er, was normalerweise der Fall ist, den Alkoholismus hinter sich gelassen, dann verfügt er über Zeit und sehr oft auch über Geld. In der Gruppensitzung kann er lernen, wie er beides für sich und andere sinnvoll einsetzt. Daraus ergibt sich unter Umständen eine mehr oder weniger umfangreiche Kulturarbeit, die sehr vielfältig sein kann. Nun ist der Guttempler-Orden zur Zeit klein und kann deshalb nicht viele Aktivitäten entfalten, aber das war in der Vergangenheit anders und kann in der Zukunft wieder so werden.

Die Anonymen Alkoholiker beschränken sich also darauf, ihre 12 Schritte und 12 Traditionen durch persönliche Erfahrungen zu kommentieren und tun darüber hinaus nichts, vor allem kritisieren sie nichts und niemanden und kümmern sich um keine Kritik, der sie selbst ausgesetzt sind, was zur Folge hat, dass es unanständig ist, sie, die niemandem etwas vorwerfen, irgendwie negativ zu bewerten. Da sie aber keine Kritik erfahren, haben sie in dem, was sie tun Recht und die anderen Unrecht- Da die Anonymen Alkoholiker also diejenigen sind, die richtig handeln, sind die anderen, insbesondere die Guttempler, nicht so gut, was aber so nie gesagt wird. Daraus folgt dann, dass das Prinzip der Anonymen Alkohol unfehlbar ist und deshalb auf andere Bereiche gerne übertragen wird. Und die Guttempler? Nun, gegenwärtig bestehen die Gruppen im wesentlichen aus Menschen, die aus subjektiven Gründen mit den Anonymen Alkoholikern nicht zurecht gekommen sind, deren Ideologie aber verinnerlicht haben, also verhalten sie sich still, wie sie es gewohnt sind. Inn der Vergangenheit haben Guttempler gerne andere, insbesondere die Temperenzler, kritisiert und wurden böse, wenn man mit ihnen auch so verfuhr - sie verhielten sich also sehr menschlich, und ich denke, sie werden wieder so handeln, wenn sie einmal zu sich selbst finden sollten.

Die Anonymen Alkoholiker verstehen sich also als eine unpolitische Organisation, die aber zugleich jede öffentliche Maßnahme, durch die der Alkoholkonsum geregelt werden sollte, verhindert wird. Dabei berufen sie sich auf die gescheiterte Prohibition in den USA, wobei sie unterstellen, dass jede Politik, die zum Ziel hat, die gesellschaftlichen Schäden, die durch den Äthanolkonsum entstehen, in einem allgemeinen Alkoholverbot münden müsse. Die Guttempler dagegen verstehen sich seit jeher als ein politischer Verband, der sowohl national wie international im Sinne seiner Prinzipien der Brüderlichkeit und des Friedens vor allem in der Entwicklungshilfe tätig ist. In Deutschland ist der Orden schwach, was ihn nicht daran hindert, ein alkoholpolitisches Programm aufzustellen und zu vertreten.

Darüber hinaus sind die Anonymen Alkoholiker der Ansicht, dass der Äthanolkonsum ein normales menschliches Verhalten ist. Krank ist ihrer Ansicht nur derjenige, der den sog. Kontrollverlust erlitten hat, also kein Ende findet, wenn er mal mit Saufen angefangen hat (was vorkommt, aber keineswegs die Regel ist). Auf der anderen Seite ist ihrer Ansicht nach aber auch die Abstinenz anomal. Der normale Mensch trinkt Alkohol, aber in Maßen, weshalb sich derjenige, der von dieser Norm abweicht, rechtfertigen muss. Daraus folgt dann, dass der Kontrollverlust den gesunden von dem kranken Menschen trennt.

Wer diesen allerdings erlitten hat, ist und bleibt krank, denn der Kontrollverlust nach Ansicht der Anonymen Alkoholiker irreversibel, weshalb sie nicht müde werden, das Dogma zu betonen, dass der Alkoholismus eine Krankheit ist, die zwar zum Stillstand gebracht, aber nicht geheilt werden kann.

Und krank ist, weil man wieder in das alte Leiden zurückfällt, sobald man nur einen Tropfen Alkohol trinkt. Ist das aber so? In den USA arbeiten Scharen von Wissenschaftlern daran, diese These zu erschüttern, also den Nachweis zu führen, dass jemand, der den Kontrollverlust erlebt habe, später durchaus wieder „normal" Äthanol zu sich nehmen können. Wenn das gelingen sollte, ist die Theorie der Anonymen Alkoholiker erledigt, die jedoch auch aus anderen Gründen nicht überzeugen kann. Die ist der Kontrollverlust zwar eine häufige bei denjenigen, die üblicherweise Schnaps trinken, was in den USA der Fall ist, wogegen Spiegeltrinker, die in Wein-Ländern häufig sind, ihn nicht kennen, gibt es dort also keine Alkoholiker? Und wenn wir uns die Jellinekschen Stufen ansehen, dann ergibt sich daraus, dass die physischen, psychischen und sozialen Schäden, die nach dieser Liste vor dem eigentlichen Kontrollverlust eintreten, enorm sind - gesund? Mehr noch: Dürfen sie an den Sitzungen einer AA-Gruppe weil sie nach dem Dogma dieser Sekte (und eine solche ist der Verband) nicht „krank" sind? Und was ist schließlich mit all den anderen leiden, die des Äthanol versacht, also die Leberzirrhose, die verschiedenen Krebsarten und was da sonst im Angebot ist? Die Theorie der Anonymen Alkoholiker hat also Löcher wie ein Schweizer Käse, weshalb die Guttempler auch auf eine solche verzichten. Sie sortieren nicht nach den Kriterien: „krank" oder „gesund, sondern nach den Merkmalen „abstinent" oder „nicht abstinent". Ob jemand krank ist oder nicht, spielt keine Rolle, aber wer der Äthanolsucht verfallen ist, hat die Chance, gesund zu werden, wenn er die physischen, psychischen und nicht zuletzt sozialen Folgen seines Leidens überwunden hat. Dass er immer rückfällig werden kann, hat er mit vielen anderen, die eine Krankheit überwunden haben, gemeinsam, aber das ist eine Gefahr, die in der Gegenwart zwar droht, aber die nicht eintreten kann, wenn der betreffende kein Äthanol zu sich nimmt, was übrigens auch einen moralischen Aspekt hat, denn wer sich als lebenslänglich krank definiert, entmündigt sich so, während der Abstinenzler dann, wenn er sein leiden überwunden hat, voll verantwortlich für das ist, was er tut oder unterlässt. Deshalb kann man ihm auch kein Dogma vorschreiben, wie das die Anonymen Alkoholiker tun, und deshalb lässt sich der Guttempler auch nicht führen, sondern entscheidet selbst.

Damit komme ich zu der Organisation der beiden Verbände. Die Anonymen Alkoholiker werden von einem anonymen Kreis geleitet, der in New York seinen Sitz hat und jeweils in den einzelnen Ländern ein Gremium benennt, das dort die Geschäfte führt, dabei aber die Anweisungen der Zentrale zu befolgen hat.

Da die Anonymen Alkoholiker darüber hinaus im Rechtssinn keine Mitglieder kennen, hat der einzelne Besucher einer Gruppe überhaupt keine Möglichkeit, über die Politik des Verbandes oder über die Verwendung des eingesammelte Geldes verbindlichzu entscheiden, es sei denn, dass es sich um Beschlüsse handelt, die auf Gruppenebene getroffen werden. Das zentrale Entscheidungsorgan bleibt namenlos und unverantwortlich. Dabei ist es nach meiner Beobachtung nicht so, dass die Anonymen Alkoholiker Institute sind, die Geld sammeln, um einigen Gurus ein gutes Leben zu ermöglichen, was nach dieser Konstruktion möglich wäre, darum geht es also nicht, wohl aber darum, den Einzelnen von den innerverbandlichen Entscheidungen jedenfalls dort, wo diese von Belang sind, auszuschließen. Im Guttemplerorden wird man Mitglied. Man ist dann verpflichtet, Beiträge - gestaffelt nach der Organisationsebene - zu zahlen, hat aber zugleich das Recht, die Organe des Verbandes zu wählen und an den inneren Diskussionen (die durchaus kontrovers sein können) teilzunehmen. Der Guttemplerorden ist also, im Gegensatz zu den Anonymen Alkoholikern, demokratisch strukturiert, wie sich das gehört.

Man sieht: Die Anonymen Alkoholiker sind konzipiert als Gegenbild zum Guttempler-Orden: Wenn Abstinenzler etwas so machen, dann praktizieren die AA das Gegenteil, dann aber mit dem Anspruch, das sie die reine Lehre vertreten, von der man nicht abweichen darf, und mit dieser Position haben sie sich durchgesetzt, eben weil die Guttempler durch ihr Verhalten in der Nazizeit ihre Identität eingebüßt haben, also selbst nicht mehr wissen, was sie eigentlich vertreten müssten, mit der Folge, dass sie faktisch nicht mehr vorhanden sind, den Anonymen Alkoholikern also auch argumentativ nicht mehr entgegentreten können.

Im Grunde gibt es nur einen Punkt, in dem beide Verbände nur anders formulieren, was sie beide meinen: Die Anonymen Alkoholiker empfehlen denen, die sich ihrer Fürsorge anvertrauen, dass sie sich vornehmen sollen, diesen Tag kein Äthanol zu sich zu nehmen. Das ist ein Vorsatz, den ein Alkoholiker verwirklichen kann, und wenn er das an jedem Tag wiederholt, wird daraus schließlich eine lebenslange Abstinenz. Ich denke, kein Guttempler wird etwas dagegen einwenden, wenn jemand auf diesem Wege seine Sucht überwindet - sofern dabei das herauskommt, was beide beabsichtigen: Die Überwindung des Alkoholismus. Und ob man den Zustand, der dann erreicht ist, als Besserung bezeichnet, wie das die Anonymen Alkoholiker tun, oder als Gesundheit, wie die Guttempler meinen, hat allenfalls eine semantische, aber keine praktische Bedeutung. Entscheidend ist jedoch die andere Differenz, über die aber nie wirklich debattiert wird, die aber die eigentliche Aufgabe der Anonymen Alkoholiker ist, nämlich die Verhinderung der Prohibition, welche die Guttempler zwar nicht mehr anstreben, die aber die anonymen Unternehmer, die hinter den Anonymen Alkoholiker stehen und diese steuern, nach wie vor fürchten, wie der Teufel das Weihwasser.

Die doppelte Blockade

Die Anonymen Alkoholiker sind sicherlich sehr mächtig, aber doch nicht mächtig genug, um die Diskussion über ein Problem, das wirklich drängend ist, in einer so demokratischen Gesellschaft, wie sie die deutsche zur Zeit ist, zu blockieren - dazu bedarf es zusätzlicher Agenten, und die sind auch vorhanden.

Da haben wir zunächst die Alkoholiker selbst, also diejenigen, die äthanolhaltige Getränke konsumieren. Dass sie mit dieser Übung sich selbst und damit auch der Gesellschaft einen Schaden zufügen, wissen sie natürlich, und sie haben deshalb ein schlechtes Gewissen. Um das zu beschwichtigen, brauchen sie für ihre Übung eine Rechtfertigung, die zunächst einmal darin besteht, dass man nur ungern, wie das mein Großvater tat, allein Wein oder Bier oder Schnaps trinkt, sondern möglichst gemeinsam mit anderen, denen man ein „Zum Wohl" wünscht. Damit sollen die üblen Folgen des Äthanol-Konsums, die zumindest in abschlaffender Energie und in einem Kater am anderen Morgen bestehen, sozusagen gebannt werden, so wie man etwa in Athletenkreisen sich Hals- und Beinbruch sagt, damit diese Übel eben nicht eintreten. Aber das genügt nicht. Wenn eine richtige Sause angesagt ist, dann muss eine möglichst hohe moralische Autorität, zumindest der Bürgermeister, antreten und mit dem Anstich des erstes Fasses beispielsweise das erlauben, was eigentlich nicht gestattet ist. Und umgekehrt: Ein einziger Abstinenzler wirkt in einer Runde von Alkoholikern, und darunter verstehe ich solche, die äthanolhaltige Getränke zu sich nehmen, so wie jemand, der die Syphilis hat, ein Syphilitiker ist (siehe Grundkurs der deutschen Sprache für Deutsche, Lektion 2), ein einziger Abstinenzler also wirkt auf Alkoholkonsumenten störend, weswegen sie sich zunächst rechtfertigen und dann entweder den Außenseiter ausschließen oder sich selbst verkrümeln. Das geschieht im kleinen Kreise, aber auch in der Gesellschaft insgesamt. Natürlich gilt das auch für den Kreis der Wissenschaftler. Der Arzt, der die Leberzirrhose beispielsweise behandelt, wird sich mit dem Organ beschäftigen, nicht aber mit der Ursache, nämlich mit dem Äthanolabusus, der in aller Regel die Krankheit verursacht, und der Soziologe wird seine Argumentation so einrichten, dass sein abendliches Bier davon nicht berührt wird. So definiert man Äthanol gerne als „Genussmittel", ohne angeben zu können, was solche beispielsweise von Orangenmarmelade unterscheidet: Sie ist in der Tat ein Genussmittel, weil sie gut schmeckt und man sie aus diesem Grunde genießt, und zugleich, wenn man so will, ein Lebensmittel, weil der darin enthaltene Zucker in Energie umgesetzt wird. Und das Äthanol? Das Gift wird genießbar, indem man es mit irgendwelchen Aromen kombiniert, beispielsweise mit Kümmel, und diese kann man in der Tat" genießen", aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Äthanol die gefährlichste Droge ist, mit der wir umgehen, Und m das schlechte Gewissen zu beruhigen greift der Alkoholiker auch gerne Nachrichten aus den USA auf, wonach ein Glas Rotwein am Tag dem Herzinfarkt entgegenwirken soll. Aber selbst wenn es so wäre: Wenn ein Medikament schädliche Nebenwirkungen haben kann, so lässt sich doch ebenso folgern, dass ein Gift möglicherweise auch einen unbeabsichtigten Nebennutzen bewirkt. Aber selbst wenn ein solcher existieren sollte (das ich nicht glaube), dann muss man trotzdem abwägen, was überwiegt, wobei im Falle des Rotweins bestehen bleibt, dass das darin enthaltene Äthanol die Nerven im Körper angreift, also dem Menschen schadet. Das ist so und wird so bleiben. Das alles weiß der Äthanolkonsument - und muss es, da er sich damit nicht rational auseinandersetzen will, irgendwie verdrängen, wobei ihm die Ärzte helfen, welche die Diskussion auf Nebenbahnen lenken, etwa wenn sie behaupten, nicht der Alkohol verursache den Alkoholismus, sondern irgendeine Neurose. Nun, gesetzt ich habe einen Waschzwang, aber keinen Alkohol, dann habe ich eine bestimmte Neurose, nichts weiter. Wenn ich mich aber besaufe und dann den beständigen Wunsch, mir die Hände zu wasche, vergesse, entwickle ich, falls mich nicht zuvor die Leberzirrhose oder eine andere vom Äthanol induzierte Krankheit hinwegrafft, einen soliden Alkoholismus. Das Äthanol ist also die, meinetwegen direkte Ursache meines Leidens, dem allenfalls indirekt meine Neurose zugrunde liegt, mit der Konsequenz, dass sie wieder auftritt, wenn ich das akute Übel überwunden habe, aber das ändert nichts an der nichts an der Tatsache, dass der Alkohol, neben vielen anderen Krankheiten (ich habe mal deren neunzehn gezählt) vor allem den Alkoholismus macht. Das weiß der Konsument und davor hat er Angst, zugleich will er auf die euphorische Wirkung des Giftes nicht verzichten und sich auch nicht aus dem Kreis der Alkoholiker ausschließen, weil er fürchtet, in dem Fall zu vereinsamen - dieser innere, uneingestandene Konflikt führt dazu, dass man zwar Äthanol konsumiert, nicht aber darüber redet, und das gilt nahezu für alle, vor allem aber für diejenigen, deren Beruf es ist, gesellschaftliche Probleme zu erkennen und zu lösen, also herrscht in dieser Frage ein Kartell des Schweigens.

Und auf ihm baut die Industrie auf, um all die Bedenken, die natürlich in jedem Kunden aufsteigen, der zu einem Glas Bier oder Wien oder gar zu einem Schnaps greift, zu verscheuchen, wobei ich hier die Strategien nicht im Einzelnen darlegen möchte, allein aus der Tatsache, dass die einschlägigen Unternehmen Milliarden von Euros für die direkte und indirekte Werbung aufwenden müssen, können wir ersehen, wie stark die psychischen Gegenkräfte sind, die darauf abzielen die chronische Selbstvergiftung zu verhindern. Wäre das notwendig, wenn Äthanol wirklich einen Nutzen mit sich brächte? Ich benutze eine Zahnpasta, die, neben der üblichen Schlemmkreise, bestimmte Kräuter enthält, die der Paradontose und anderen Schäden am Gebiss entgegenwirken. Sie wird nur über Apotheken vertrieben und ist sehr teuer - und die Firma betreibt, so weit ich das sehe, keine Werbung. Und warum nicht? Sie verlässt sich vermutlich (ich habe nicht gefragt) darauf, dass die Konsumenten positive Erfahrungen machen und diese weitergeben. Der Konsument von Äthanol macht indes mit dem Gift negative Erfahrungen, die er auch weitergibt - und weil das geschieht, muss die einschlägige Industrie einen riesigen Aufwand treiben, um die Wirkung dieser negativen Wirkung zu unterdrücken, was aber nie ganz gelingen kann, denn die Opfer ihrer Produkte sind im Stadtbild ja unübersehbar, ganz abgesehen davon, dass jeder in seinem Kreis die Menschen, in aller Regel sind es ja mehrere, kennt, die am Äthanol in der elendesten Weise zugrunde gegangen sind (und hier warne ich wirklich Neugierige). Und in diesem Augenblick kommen wieder die Anonymen Alkoholiker ins Spiel. Sie sind für die Industrie nicht nur deshalb wichtig, weil sie einer möglichen neuen Prohibitionskampagne entgegenwirken, indem sie solche Bestrebungen im Keim ersticken, sondern weil sie den Äthanolkonsum befördern, indem sie den einzelnen Konsumenten von den Bedenken, die ganz spontan in ihm aufsteigen, wenn er zum Schnapsglas greift, abzubringen trachten. Sie tun das, indem sie den Äthanolkonsum zur Norm erheben, den Abstinenzler aber in die Situation des Außenseiters bringen, also desjenigen, der in einer Gesellschaft unerwünscht ist und der sich deshalb rechtfertigen muss: Ich heiße Willy und bin Alkoholiker. Weil er das nämlich ist, darf er von der Norm abweichen - der andre, der diese Entschuldigung nicht vorbringen kann, also den Kontrollverlust nicht erlebt hat, darf nicht nur, er muss sogar Äthanol trinken, denn sonst gehört er nicht dazu! Die Anonymen Alkoholiker sagen also, dass das, was allgemeine Übung ist, auch als natürlich zu gelten hat, wobei sie außer Acht lassen, dass das, was die Sitte gebietet durchaus ideologisch motiviert sein, aber der Natur zuwider laufen kann, was hier der Fall ist. Weil aber dieser Widerspruch nicht bewusst werden darf, muss jede Diskussion über das, was die Anonymen Alkoholiker sagen, ausgeschlossen werden und zwar nicht nur in ihrem Kreis, sondern überhaupt. Der Verband - und es handelt sich um eine sehr autoritär geführte Organisation - leistet also kostenlos das, wofür die Industrie viele Milliarden Dollars und Euros ausgibt - mehr noch: Die Teilnehmer an den Gruppensitzungen der AA zahlen auch noch dafür, dass sie so den Gnomen in New York und andernorts zu Diensten sein dürfen.

Und dann die karitativen Konzerne der Kirchen! Ihre Finanzkraft ist gewaltig und ihre Macht enorm - und warum? Weil sie die Entsorgung Alkohol-Opfer, die von den Anonymen Alkoholiker kostenlos eingeleitet wird, gegen klingende Münze zu Ende führen. Sie haben nämlich die Äthanoltherapie in ihrer Zuständigkeit praktisch monopolisiert. Ich erwähnte bereits, dass der schwedische Arzt Magnus Huss das, was bis dahin als „ebrietas" (let. Trunkenheit) nur umschrieben wurde, als Krankheit definiert hat, was sich übrigens als sehr schwierig erwies, weil nämlich das Äthanol ein Nervengift ist und deshalb alle Organe des Körpers zugleich angreift. Die schädlichen Wirkungen des Giftes sind also sehr vielfältig, schlimmer noch: Wenn wir die Leberzirrhose als Beispiel nehmen, lässt sich in diesem Falle sagen, dass zwar in aller Regel der Äthanol-Konsum die Ursache ist, aber daneben gibt es eben auch andere Quellen des Übels. Und dasselbe gilt für bestimmte Krebsarten und was sich sonst im Angebot vorfindet. Doch nehmen wir ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Es ist bekannt, dass der Konsum von Methanol zur Erblindung führt. Natürlich können auch andere Ursachen dazu führen, dass wir das Augenlicht verlieren, aber wird es deshalb falsch, dass die Form des Alkohols diese Wirkung hat? Natürlich nicht. So bleibt es dabei, dass die schädlichen Wirkungen des Äthanols so vielfältig sind, dass man sie nicht auf einen Nenner bringen kann, mit der Folge, dass man im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zwar viel über den Alkoholismus schrieb und auch redete, nicht aber definieren konnte, wovon eigentlich die Rede war. Das änderte sich erst 1968, also der Bundessozialgericht unter dem Einfluss der Anonymen Alkoholiker die Krankheit als psychosomatische Abhängigkeit von der Droge bezeichnete, indem es entschied, dass derjenige, der die Entzugserscheinungen, die bei ihm eintreten, wenn er den Konsum des Äthanols unterbricht, mit eben dieser Substanz bekämpft, als krank zu bezeichnen ist und dass die Therapie damit von den Krankenkassen zu bezahlen ist. Das war, was gerne vergessen wird, eine juristische Definition, die dazu diente, das schuldrechtliche Verhältnis des Patienten zu den Krankenkassen zu regeln - nichts weiter. Was im Alkoholismus im medizinischen, also naturwissenschaftlichen Sine richtig ist, können Juristen naturgemäß ebenso wenige entscheiden wie Theologen oder Gartenzwerge. Immerhin hatten sie aber so die Tore zu einem Riesengeschäft eröffnet, das seither die Kassen der Wohlfahrtskonzerne, insbesondere der Kirchen, füllt. Das war natürlich nicht immer so. Im 19. Jahrhundert gab es natürlich auch Alkoholiker und das nicht zu knapp. Saufen die Menschen heute, weil es ihnen zu gut geht, so damals, weil sie hungerten und Schmerzen litten. Und weil die Trinker kein Geld hatten, trotzdem aber irgendwie versorgt werden mussten, fielen sie erst den Pastoren, welche die Armenkasse verwalteten, und dann den Ärzten, die moralisch verpflichtet waren, sie kostenlos zu behandeln, lästig. Die Mitglieder beider Gruppen waren also daran interessiert, dass die Trunkenbolde gar nicht erst in Erscheinung traten, und so finden wir sie ganz vorne, wenn es darum ging, den Trinksitten entgegenzuwirken. Als man aber den Trinker als Patienten entdeckte, änderte sich das Bild. Zum Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die Spezialkliniken, die sich dieser Menschen gegen klingende Münze annahmen, womit aber diejenigen, die nicht zahlen konnten, nicht versorgt werden konnten. Die Nazis versuchten das Problem zu lösen, indem sie diese Menschen einfach ins KZ steckten, wo sie keinen Schnaps mehr bekamen, dafür aber arbeiten mussten und zwar unter Bedingungen, die ihren baldigen Tod bedeuteten. Dieser Weg wurde aber mit der Befreiung im Jahre 1945 versperrt, dafür öffnete das Bundessozialgericht sowohl den Pastoren als auch den Ärzten die Kassen der Krankenversicherungen und damit waren die Bedingungen dieses Marktes von Grund auf verändert., zumal inzwischen neben die Theologen und Mediziner ein dritter Stand getreten war, der ein Interesse an dem „Krankengut" anmeldete: die Sozialarbeiter im weitesten Sinne des Wortes. Die Arbeitsteilung nämlich war nämlich auf diesem Feld soweit gediehen, dass der Pastor auf der einen, der Arzt auf der anderen Seite eine Fülle von Aufgaben an Helfer abgegeben hatte, die im täglichen Kontakt zu dem Kranken standen und stehen und sich dabei eine immer größere Kompetenz und damit Selbständigkeit erwarben. Diese Fachkräfte hatten nun zunächst ein wirkliches Interesse daran, dass der konkrete Alkoholiker, wenn er vor ihnen stand, geheilt werden konnte, denn kein Mensch hält seinen Beruf aus, wenn er nicht wenigstens gelegentlich Erfolge verzeichnen kann, aber natürlich war seine Existenz nur dann gesichert, wenn für den „Alki", der aus dem Markt verschwand, zumindest ein neuer in das Sprechzimmer trat und behandelt werden musste. Und dasselbe galt und gilt natürlich für die Institutionen, die den Diakon oder Sozialarbeiter bezahlten: Auch sie waren zwar daran interessiert, dass im Einzelfall geholfen wurde, das Problem aber blieb, ja, verschärft wurde, weswegen man jetzt stets neue Süchte entdeckte, bis man bei der Sexualsucht landete, von der zwar keiner definieren, worin sie bestand, aber dass Hunderttausende an ihr litten und dringend therapiert werden mussten, wusste man natürlich genau.

Und wenn man jetzt hinzufügt, dass die einzige Organisation, nämlich der Guttempler-Orden, der hier die Rolle des Kindes hätte spielen können, das in Andersens Märchen rief: „Aber der Kaiser ist ja nackt!", sich selbst faktisch aufgegeben hat, verstehen wir wohl ganz gut, warum der Alkoholismus kein Thema der politischen Institutionen der Republik ist, obwohl Millionen an dem Übel leiden, der Krankenstand durch das Gift enorm nach oben getrieben wird, was die gesellschaftlichen Kosten nahezu unbezahlbar macht - obwohl also sehr wohl Anlass genug ist, den Äthanolkonsum zum Thema zu machen, reden wir über die paar Heroin-Abhängigen und über die geringe Zahl der Kokain-Opfer, nicht aber über diejenigen, um die es eigentlich gehen sollte, nämlich über die Konsumenten des Äthanols.

Was wäre zu tun?

Ja, was wäre zu tun?

Nun, es ist ja nicht so, dass es keine Alkoholpolitik gäbe! Beispielsweise ist es verboten, äthanolhaltige Getränke an Jugendliche auszugeben, außerdem sind sie mit zusätzlichen Steuern belegt, dann wird die Promille-Grenze für Autofahrer seit Jahrzehnten immer weiter gesenkt. Natürlich könnte man sagen: Wer Äthanol, egal wie viel, zu sich genommen hat, gehört nichts ans Steuer, aber zu einer solch radikalen Maßnahme konnte man sich bislang nicht durchringen und so begnügt man sich mit einer Lösung, die zwar praktisch darauf hinaus läuft, aber nicht so im Gesetz steht. In den Betrieben allerdings, wo es um Mark und Pfennige nicht der Allgemeinheit, sondern privater Eigentümer geht, ist der Äthanolkonsum jedenfalls dort, wo produziert wird, nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch verboten. Das ist, denke ich, alles. Von den vielfältigen Maßnahmen der Vergangenheit, die den Äthanolkonsum steuern sollten, ist so gut wie nichts geblieben, so sehr wirkte die negative Erfahrung der amerikanischen Prohibition, die durch die Gegenpropaganda der Alkoholindustrie natürlich noch verstärkt wurde, auf die politischen Eliten, aber wie auch immer: Und es ist ja auch richtig, dass das „edle Experiment" der Prohibition fehlgeschlagen ist, allerdings nicht deshalb, weil ein Äthanolverbot sich nicht segensreich auswirken würde, sondern weil die Gesellschaft es aus guten Gründen nicht akzeptiert hat, jedenfalls sollte man es auch aus meiner Sicht nicht wiederholen - belassen wir es bei dieser Bemerkung.

Und das Gegenmodell?

Was würde geschehen, wenn der Gesetzgeber den Handel mit Drogen und natürlich auch deren Konsum ebenso freigeben würde wie das bei Zucker der Fall ist, der ja von manchen Ernährungswissenschaftlern als die eigentliche Einstiegsdroge in unserer Gesellschaft bezeichnet wird?

Ich erinnere mich an den Vortrag eines niederländischen Professors in Bremen, der darlegte, dass die Masse derjenigen, die Kokain schnupfen, die Droge beherrschen und nicht von ihr beherrscht werden. Nur fünf Prozent der Konsumenten, so sagte er, gerieten, wie das Konstantin Wecker medienwirksam vorgeführt hat, in den Zustand der Abhängigkeit und mit negativen Folgen für die individuelle Gesundheit. Und diejenigen, die sich Heroin spritzen, so habe ich gelernt, würden, wenn sie die Substanz in ihrer reinen Form so geliefert erhielten, dass sie ihr Quantum auch zuverlässig dosieren könnten, sozial angepasst leben. Die fürchterlichen Konsequenzen, die man an jedem großen Bahnhof besichtigen kann, seien, sagt man, eine Folge der Prohibition, die dazu führen, dass die Händler den Stoff mit Backpulver strecken, das nun einmal nicht in die Blutbahn gehört und wodurch vor allem die Dosis nicht mehr zu kontrollieren ist, und wenn dann noch das Spritzbesteck nicht steril ist, wird den Aids-Viren natürlich das Tor in den menschlichen Organismus weit geöffnet, aber das alles hat mit dem Heroin selbst nichts zu tun. Und Haschisch schließlich macht im Sinne der AA überhaupt nicht abhängig. Damit ich verstanden werden: Alle Drogen sind schädlich, aber zunächst muss man feststellen, worin die spezifischen negativen Wirkungen bestehen, dann sollte man zwischen den physischen und den sozialen Ursachen der Schäden unterscheiden, und wenn man das tut, wird man feststellen, dass die illegalen Drogen in der Tat bei weitem nicht so gefährlich sind, wie sie durch die ideologisch motivierte Literatur gemacht werden, Äthanol dagegen sehr viel schädlicher

Doch kehren wir zur Partydroge der Schickeria zurück, die ja in Kreisen der Oberen Zehntausend in Berlin oder Münchenziemlich ungehindert gehandelt und konsumiert wird. Wenn trotzdem nur etwa 5 Prozent der Kunden im Sinne der AA abhängig werden, also so der Droge verfallen, dass sie nicht mehr ihren sozialen Pflichten nachkommen können, dann stellt sich natürlich die Frage, ob das ein soziales Gesetz sein könnte, will sagen, dass es eine geheime Barriere gibt, die verhindert, dass eine ganze Gesellschaft wie das deutsche Volk an einer Droge zugrunde geht. Erstaunlich ist jedenfalls, dass der Äthanolkonsum trotz intensiver Werbung der einschlägigen Industrie stagniert, zwar auf hohem Niveau, aber stagniert der Äthanol-Konsum, und auch hier schätzt man, dass etwa fünf Prozent der Alkoholiker nach AA-Kriterien als abhängig oder süchtig zu bezeichnen sind.

Nun wären das in absoluten Zahlen immer noch zwei bis zweieinhalb Millionen Menschen, die einer kostspieligen Behandlung bedürften, also weit mehr, als unser Gesundheitssystem finanzieren könnte, aber das scheint niemanden zu stören. Man stelle sich das Geschrei vor, wenn es eben so viele Syphilitiker beispielsweise in der Republik gäbe - aber gut: übergehen wir den Punkt und wenden wir uns der ursprünglichen Überlegung zu: ich ging davon aus, dass trotz des Angebotsdrucks der Industrie die absolute Zahl der Äthanolabhängigen aus Gründen, die wir nicht kennen, die aber irgendwie in der Sozialpsychologie aufzusuchen wären, stagniert, könnten wir dann auf alle politischen Maßnahmen zur Steuerung des Drogenkonsums verzichten?

Wahrscheinlich nicht, denn

wir wissen nicht, dass der Zustand in Zukunft so bleibt,

und außerdem müssten wir befürchten, dass der ungehinderte Konsum des Äthanols einen ebenso exzessiven Verbrauch der Drogen, die jetzt noch illegal sind, nach sich ziehen würde.

Wenn das aber eintreten sollte, dann würde auch im Falle von Heroin und Kokain eintreten, was im Falle des Haschischs bereits geschehen ist, nämlich dass die Prohibition aus gesellschaftlichen Gründen nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Dann aber könnte der Drogenverbrauch insgesamt so zunehmen, dass er nicht mehr toleriert werden könnte, nur dass dann die Schraube nicht mehr zurück zu drehen wäre - finis Germaniae.

Male ich zu schwarz?

Betrachten wir das Schicksal der Indianer: Die amerikanischen Siedler, die zwar besser bewaffnet waren als die Ureinwohner des Kontinents, aber nicht sehr zahlreich, haben die Rothäute auch deshalb besiegt, weil sie das Feuerwasser, zunächst Rum, dann Whiskey, gegen sie einsetzten. Als sich dann die Waffe gegen ihre Urheber richtete, versuchten die Pastoren gemeinsam mit den Unternehmern das Rad der Geschichte zurückrollen zu lassen, also das Äthanol wieder zu verbannen, aber das ist nicht gelungen. Mit anderen Worten: Wenn der Zustand eingetreten ist, dass die eine Hälfte der Nation, die nüchtern geblieben ist, die andere Hälfte therapieren muss, weil sie säuft, dann ist nichts mehr zu retten.

Wenn also weder die Prohibition noch die Permissivität zu empfehlen ist - was dann?

Wenn wir den Äthanolkonsum reduzieren wollen - mehr ist nicht möglich -, müssen die Maßnahmen so gestaltet werden,

dass sie die Konsumfreiheit der Menschen nicht einschränken,

vernünftig begründet sind und

so durchgesetzt werden können, dass die Grundrechte des Bürgers nicht beeinträchtigt sind.

Im Prinzip ist das auf zwei Wegen möglich:

entweder wird das Angebot der Drogen beschränkt - das wer der Weg der Prohibition -,

oder man beeinflusst die Nachfrage - das versuchte die Vertreter der Ersten Mäßigkeitsbewegung.

Natürlich kann man auch beide Möglichkeiten miteinander kombinieren, was ich empfehle. Dabei versuche ich an Überlegungen anzuknüpfen, die längst in die Gesetzestexte Eingang gefunden haben, also allgemein akzeptiert sind und deshalb nur ausgebaut werden müssten. Beispielsweise:

Die Produktion äthanolhaltiger Getränke verursacht bestimmte Kosten, die der Unternehmer seiner Kalkulation zugrunde legt. Dann schlägt er eine Gewinnmarge drauf und das wäre dann sein Preis - wenn da nicht Vater Staat wäre, der von ihm nicht nur die üblichen Steuern abkassiert, die jeder zahlen muss, sondern darüber hinaus eine besondere Abgabe, mit der nur äthanolhaltige Getränke belastet sind. Das tut er deswegen, weil er die gesellschaftlichen Kosten, die durch den Äthanolkonsum entstehen, dem Produzenten aufpelzt, also die Aufwendungen für die Therapie der zahlreichen Krankheiten, die durch die Droge erzeugt werden, wie überhaupt für die Entsorgung der Opfer der Substanz. Das ist konsequent und auch richtig - nur dass die Summe nicht ausreicht, um die Schäden wirklich abzudecken. Es wäre also gerechtfertigt, die Steuer auf das Äthanol, so weit es für den menschlichen Konsum bestimmt ist, sehr deutlich zu erhöhen, womit die entsprechenden Getränke natürlich teurer würden.

Die Werbung für Äthanol müsste unterbunden werden. Natürlich gibt es für Heroin, Kokain und Haschisch keine Werbung, denn sie sind illegal, warum aber für Schnaps, Bier und Wein, die zwar legal sind, von denen man aber weiß, dass sie enorme Schäden anrichten? Die einschlägige Industrie argumentiert, dass es ihr in ihrer Reklame nicht darum gehe, den Verbrauch der Droge zu erhöhen. Man habe nur die Absicht, den Anteil einer bestimmten Marke am gesamten Konsum zu steigern. Das ist natürlich Quatsch ist, denn kein Werbestratege kann vermeiden, dass er für ein bestimmtes Produkt wirbt, wenn er eine Marke anpreist. Wer für das Papiertaschentuch „Nasefrei" wirbt, wird, wenn er Erfolg hat, zugleich den Absatz der Ware steigern, um die es geht.

Und dasselbe Prinzip gilt natürlich auch für das Äthanol. Natürlich will der Fabrikant von „Sauftüchtig" zunächst seine Ware absetzen, aber indem er das tut, schafft er geradezu einen Markt für die Droge, bzw. er vergrößert ihn, wenn er bereits vorhanden ist. Um das zu verhindern, unterbindet der Staat die Reklame für die illegalen Drogen. Der Gesetzgeber weiß natürlich, dass er sie damit nicht abschafft, aber er behindert den Vertrieb und verteuert damit das Produkt, und er tut dies, weil sie gefährlich sind - also sollte er das auch im Falle des Äthanols tun.

Der Konsum ist überall dort zu unterbinden, wo mit ihm Gefahren für Dritte verbunden sind. Beginnen wir mit dem Verkehr, weil da das Äthanolverbot am einleuchtendsten ist. Gefährlich ist nämlich nicht so sehr der Autofahrer, der sich volltrunken hinter das Steuer setzt - er lässt den Motor an, fährt geradeaus und kracht gegen die nächst Mauer, wo er allenfalls sich selbst verletzt und kaum jemand anders. Anders derjenige, der leicht beschwipst ist und nun meint, er führe wie ein junger Gott, tatsächlich aber fahruntüchtig ist - er kümmert sich um keine Geschwindigkeitsbegrenzung und überholt leichtsinnig, bis er frontal mit einem anderen Fahrzeug zusammenprallt und so nicht nur sein Leben beendet, sondern auch das einer schuldlosen Familie, die auf dem Weg in den Urlaub war. Dass man solche Situationen verhindern kann, indem man die 0.00 Promille-Grenze im Verkehr durchsetzt, liegt auf der Hand. Sie ist bereits in Fabriken die selbstverständliche Norm, sollte aber nicht nur für den Bandarbeiter gelten, sondern auch für den Generaldirektor. Die Schnapsflasche gehört schlicht nicht in den Schreibtisch, weil der besoffene Mitarbeiter nichts mehr leistet und eher Fehler macht, die bei einem leitenden Kader verheerend sein können. Es ist also wichtig, dass die Fabrik zur äthanolfreien Zone wird, ebenso aber jede Verwaltung und jede Schule. Und um diesen Zustand auch zu garantieren, müsste um jede solche Einrichtung, also um jede Fabrik, jede Schule, egal welcher Stufe, und jede Kaserne eine Bannmeile gezogen werden, in der keine äthanolhaltigen Getränke verkauft werden dürfen. In diese Rubrik gehören natürlich auch Sportanlagen. Natürlich wird es diejenigen geben, die mit der Kiste Bier die Fankurve ihres Vereins ansteuern - nur werden sie den Vorrat bis zum Anpfiff gelenzt haben, und dann? Entweder sie bleiben auf ihren Plätzen und schauen dem Spiel zu, dann ist am Ende der Äthanolspiegel so gesunken, dass sie keine Lustmehr haben, eine Schlägerein anzuzetteln, oder aber sie laufen los und holen Nachschub, aber wann sind sie dann wieder da? Ich vermute, dass solche Fans dann lieber gleich draußen bleiben, was ja für alle Beteiligten nur zu begrüßen wäre.

Das wären also die administrativen Maßnahmen, die mir einfallen. Ich könnte sie natürlich noch im Einzelnen darstellen, will das aber nicht tun, denn die Richtung ist, denke ich, klar. Am weitaus wichtigsten ist aber das Vorbild der sozialen Leitfiguren. Wenn beispielsweise ein Rennfahrer seinen Sieg damit feiert, dass er die große Sektflasche über seine Mitkämpfer und andere ausleert, dann ist das natürlich eine riesige Reklame für das Produkt, vielleicht sogar für eine bestimmte Marke. Und wenn Politiker und sonstige „VIP's" irgendeinen Vertrag damit feiern, dass sie mit einem Glas anstoßen, in dem sich die Droge Äthanol befindet, dann ist das natürlich eine moralische Unterstützung, welche die einschlägige Industrie nicht mit Geld bezahlen könnte. Das sollte also aufhören - aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Jeder, der aus freien Stücken, also ohne sich damit zu entschuldigen, dass er Alkoholiker sei und deshalb leider auf das Gift verzichten müsse, zwingt den Alkoholiker in seiner Gesellschaft zu einer Entscheidung, die natürlich so oder so fallen kann - aber der Abstinenzler beendet durch sein Verhalten, dass die Droge weiter gedankenlos konsumiert wird, oder, anders ausgedrückt, er macht bewusst, was jeder weiß. Natürlich kann der Alkoholiker einer Entscheidung ausweichen, indem er sich nicht mehr in diese Situation bringt, also beispielsweise indem er auf sein Bier verzichtet, solange der Störenfried dabei sitzt, aber allein das wäre ja ein erwünschter Effekt, der zeigt, dass eine kleine Gruppe, deren Mitglieder ihre Abstinenz nicht durch Krankheit entschuldigt, sondern als ein selbstverständliches und damit normales Verhalten praktiziert, eine enorme Wirkung erzielen kann. Ich werbe also dafür, dass möglichst viele, so wie das die Guttempler tun, keine äthanolhaltigen Getränke zu sich nehmen und den Trinksitten entgegenwirken und wenn sie darüber hinaus für die Brüderlichkeit unter den Menschen und für den Frieden unter den Völkern eintreten, wäre dagegen ja auch nichts einzuwenden.

Aber warum ist es schwer, das, was doch offensichtlich auf der Hand liegt, in der Gesellschaft durchzusetzen?

Nun, die Angst, dass man sich mit einer Meinung, die nicht von vielen geteilt wird, isoliert, ist sehr groß, und es ist nun einmal so, dass wir von zwei Ängsten getrieben werden, nämlich zum einen, dass wir aus der Gruppe, der wir angehören, ausgeschlossen werden und zum andern, dass der Sozialverband, von dem wir abhängig sind , vernichtet werden könnte. Wer nun aus einer alkoholisierten Gesellschaft ausscheidet, muss diese Befürchtung überwunden und das ist in aller Regel nur möglich, wenn man eine Alternative findet, wie sie früher von den Guttemplern, heute von den Anonymen Alkoholikern angeboten wird. Es ist aber extrem schwer, einen solchen Verband zu gründen. Das musste ich erfahren, als ich den Ehrgeiz entwickelte, eine Guttempler-Loge zu gründen. Zwar hatte ich die neun Interessenten gefunden, die man dafür braucht, aber der zehnte wollte sich nicht einstellen.

Endlich hörte ich von einem Schüler, der weder rauchte noch Alkohol trank - aha: das war mein Kandidat. Er hörte mich auch höflich an und sagte dann:

„Es ist zwar richtig, dass ich nicht rauche und keinen Alkohol trinke -aber warum muss ich deshalb einem Verein beitreten?" Auf diese Frage habe ich bis heute keine Antwort gefunden. Ich trete also einen Schritt zurück und stelle zunächst die Frage, warum ich, wie ein Guttempler, keinen Alkohol trinke und den Trinksitten entgegenwirke. Ich habe auf die Frage zwei Antworten:

Zum einen, weil die Abstinenz mir einen Zugewinn an Lebensfreude bringt. Das Äthanol stumpft die Nerven ab, was zur Folge hat, dass ich beispielsweise ein gutes Essen mehr genießen kann als mein Nachbar, der die Geschmacksnerven durch Wein oder Bier oder gar Schnaps betäubt. Und ist es nicht ein ungeheurer Genuss wenn man auch nach einem geselligen Abend am andern Tage frisch und munter aufwacht, allenfalls von dem Schnurren einer Katze geweckt und nicht durch die Kopfschmerzen, die der Kater hinterlässt?

Und angesichts der Schäden, welche die Droge im Körper anrichtet. Natürlich schadet der gelegentliche Konsum nichts und wenn es dabei bleibt, tritt kein dauerhafter Schaden ein, aber es kann sein, dass man die Dosis unmerklich steigert. und es gibt die Grenze, jenseits derer den Abhängigen ein Schicksal erwartet, dass ich niemandem wünsche, womit ich nicht nur das Delirium tremens oder gar den Korsakoff meine - auch der Tod durch die Leberrhise oder den Krebs ist nicht zu verachten, all das sind Risiken, denen ich ausweichen oder die ich vermindern kann, indem ich kein Äthanol zu mir nehme.

Ja, ich gebe es zu: Ich trinke keinen Alkohol und wirken den Trinksitten entgegen, denn ich will natürlich keinem meiner Gäste einen Schaden zufüge, indem ich ihm ein Gift anbiete, im Gegenteil - ich möchte ihm Gutes tun, indem ich in meiner Praxis deutlich mache: Die alkoholfreie Lebensweise lohnt sich, weil sie einen Gewinn an Lebensfreude bringt und für die Abstinenz ist es nie zu früh und selten zu spät.